Re: 2016: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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gypsy-tail-wind
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Decoy & Evan Parker – NovaraJazz, Novara (IT), 30.1.
http://www.novarajazz.org/eventi/decoy-evan-parker

Zürich, Samstagmorgen, dichter Nebel, wie es ihn schon seit Monaten nicht mehr gab. Sechs Stunden später, Novara: dichter Nebel. Das übliche feuchte Klima in der Gegend der Reisfelder im Norden Italiens. Check-in im Hotel Cavour, direkt beim Bahnhof (zum Glück, wie sich am nächsten Morgen entpuppen sollte), ein Gang durch die gut erhaltene, aber zu weiten Teilen mit den üblichen gesichtslosen Läden verpestete und übermässig aufgehübschte (ich glaube man nennt sowas „Aufwertung“, bloss: für wen?) Altstadt von Novara, als ich das Gefühl nicht mehr loswurde, an jeder Ecke schon zweimal gestanden zu sein zurück ins Hotel, dann viel zu früh eine Pizza und – zum Glück! – zwei Bier, bevor ich mich auf die Suche nach der Lokalität machte, in der Decoy, das Orgelpowertrio um Alexander Hawkins, John Edwards und Steve Noble, gemeinsam mit dem grossen Evan Parker auftreten sollte. Novara Jazz ist der Veranstalter, im späten Frühling gibt es da auch ein Festival (dieses Jahr u.a. mit einem neuen Projekt von Rob Mazurek). Im ziemlich gesichtslosen Attico delle arti, wohin man auswich, weil die anderen regulären Spielstätten nicht zu haben waren, fanden sich nach 21 Uhr (den geplanten Beginn, aber das ist ja Italien) sehr viele Leute ein. Der Gang führte mich durch die Bahnhofsunterführung, die am Ende fast wie jene aus „Irreversible“ aussah, den Gleisen entlang, durch die Vorstadt, vorbei an arabischen Läden (und dem zugehörigen „Personal“, das da immer davorsteht) – dass da draussen wirklich Jazz gespielt werden sollte, glaubte ich eigentlich nicht.

Aber gut, der Platz in der ersten Reihe war gesichter, irgendwann ging das Licht aus und es ging los. Für Hawkins hatte man eine uralte B3 gefunden, inklusive Leslie, der bereits drehte, als ich aufkreuzte, für Edwards einen Bass, mit dem er seine liebe Mühe hatte (der Stachel sank immer wieder ein, die Saitenhöhe konnte nicht verstellt werden und passte gar nicht, wie Edwards mir nachher erzählte), Parker hatte sein Tenorsaxophon dabei (er reist immer nur noch mit einem einzigen Instrument, was schon mühsam genug geworden ist). Das Quartett ging sofort in die Vollen, Edwards/Noble legten unheimlich dichte, treibende Rhythmen vor, die auch immer wieder auf Teufel komm raus groovten – allerdings niemals so, dass den anderen etwas aufgezwungen, sie in den Drum-Beat einfallen mussten … im Gegenteil, das faszinierende war gerade das Miteinander, das ganz spontan war und allen vieren Möglichkeiten öffnete, Angebote, die sie annehmen konnten oder auch nicht. Hawkins bediente die Orgel fast komplett ohne jaulende Jazz-Orgel-Klischees, sie klang oft fast wie ein analoger Synthesizer oder sowas, Edwards griff immer wieder zum Bogen oder spielte mit beiden Händen hoch am Hals, auch immer wieder mit Obertönen, die in stupender Geschwindigkeit mit tiefen Tönen oder Arco-Passagen wechselten.

Ich brauchte wohl 10 oder 15 Minuten, bis ich mit dem Reichtum, der Dichte der Musik einigermassen klarkam, zu Beginn drohte sie mich zu erschlagen, wegzupusten. Parker glänzte am Tenor wie immer mit einem bezaubernden Ton, besonders schön in einer Passage in der zweiten Hälfte (glaube ich, ich verlor jegliches Zeitgefühl), als er Coltrane (ca. Frühling 1965 dachte ich, aber mit reichlich beigemischten sheets of sound) zu channeln schien. Diese Passage zählte zu den schönsten des Konzertes.

Nach dem Konzert blieb ich dort, in der Hoffnung mich noch ein wenig mit Alexander zu unterhalten (wir hatten uns davor nur rasch begrüsst), dabei ergab sich zuerst mal ein längeres Gespräch mit Steve Noble, das sehr interessant, über sein Verständnis, wie diese Band funktioniert, seine Art und Weise, Schlagzeug zu spielen etc. Auch mit John Edwards ergab sich dann noch ein kurzes Gespräch, in dem er sich eben über den Bass beklagte (ich hatte bemerkt, dass ich den Kampf, den er mit bzw. gegen den Bass geführt hatte, lustig anzuschauen gewesen war … musikalisch war seine Performance in meinen Ohren ja makellos, auch der Sound des Basses war völlig in Ordnung bzw. da war eh einiges an Verstärkung dabei und insgesamt klang das alles sehr gut, trotz des seltsamen Raumes, der mehr wie ein Aufenthaltsraum eines Heimes als wie ein Konzerttraum wirkte.

Danach unterhielt ich mich auch noch mit den Veranstaltern, wurde schliesslich eingeladen, mit allen noch was zu trinken, wir endeten in einer ziemlich guten Bar, es gab Negroni für alle:

Ich unterhielt mich dann wieder länger mit Alex, machte ihm auch den anderswo erwähnten Vorschlag (das war in der Tat ein Geistesblitz während des Konzertes), dass er mal mit Sons of Kemet spielen könnte.

Ein paar professionelle Photos vom Konzert kann man hier sehen:
https://www.facebook.com/media/set/?set=a.1236058833076086.1073741891.141248235890490&type=3

Hier noch ein zweiter meine Schnappschüsse (bei Abrams-Konzert sass ich zuweit entfernt und mich zu den herumblitzenden Störefrieden gesellen mochte ich nicht):

Muhal Richard Abrams Quintet – Teatro Manzoni, Mailand (IT), 31.1.
http://www.aperitivoinconcerto.com/index.php?idPagina=2-1&evento=8

Sonntagmorgen musste ich nach 7 raus, wollte nicht aufgrund italienischer Züge (oder ihrer Abwesenheit) die Chance verpassen, Muhal Richard Abrams zu hören. Der Nebel war diesmal in meinem Kopf, knappe fünf Stunden Schlaf reichten bei der totalen Übermüdung der letzten Wochen definitiv nicht. Ich löste dann im Halbschlaf ein Erstklassticket nach Mailand und vergass auch noch zu gucken, ob ich es entwerten müsste (hätte ich gemusst, aber es kam keine Kontrolle). Um den Kopf zu leeren hörte ich mir Mozarts Klavierkonzert Nr. 24 KV 491 mit Rubinstein und Krips an und machte mich in Mailand zu Fuss auf den Weg vom Bahnhof in die Innenstadt, entlang den Geschäftshäusern, von denen die Obdachlosen schliefen. Die Zeit reichte für einen längeren Spaziergang vorbei an der Scala (wo Haitink das deutsche Requiem gibt, aber nicht mit dem grossartigen Christian Gerhaher wie vor zwei Wochen in Zürich), zum Dom (in die Schlange stellen mochte ich mir aber nicht und ein Taschenmesser hatte ich auch mit, das wohl nach einer halben Stunde anstellen zu Problemen geführt hätte) und zur Galleria Vittorio Emanuele II. Dann zum Teatro Manzoni, wo um 11 Uhr das Konzert begann.

Auf der Bühne fanden sich neben dem Meister am Flügel ein: Jonathan Finlayson (Trompete), Bryan Carrott (Vibraphon), Reggie Nicholson (Schlagzeug), und als schöne Überraschung nicht wie angekündigt Brad Jones sondern Leonard Jones (Bass). Mit diesem und Abrams stand verdammt viel Chicagoer Jazzgeschichte auf der Bühne, er trat 1965 der AACM bei und wirkte u.a. bei Alben von Muhal Richard Abrams, Kalaparusha Maurice McIntyre oder Henry Threadgill mit (er lebt übrigens in der Nähe von Düsseldorf).

Die Musik war das komplette Kontrastprogramm zum Vorabend, der direkt, „in your face“ war und auch gleich so begann. Das Quintett um Abrams begann eher tastend, öffnete Räume, ganz in der Chicago-Tradition. Finlayson und Carrott standen solistisch im Zentrum, aber auch sie glänzten keinesfalls mit übermässiger Virtuosität sondern verzahnten ihre Kürzel und Schlenker stets mit Abrams‘ Piano und der Rhythmusgruppe, die von Jones‘ tiefem Bass bestens geerdet wurde (man konnte da im direkten Vergleich auch erahnen, weshalb Edwards mit dem Instrument am Vorabend unzufrieden war, auch wenn das wie gesagt im Konzert überhaupt nicht auffiel). Trotz einiger längerer Soli von Finlayson, Carrott und Abrams bestand das gut einstündige Set vor allem aus Gruppenmusik, es entwickelte sich organisch, die Musiker setzten aus, gestellten sich wieder dazu, jeder war auch mal unbegleitet zu hören, besonders schön etwa der Moment nach dem Bass-Solo, als Abrams wieder einstieg.

Und wie schon am Vorabend gelang auch dem Abrams-Quintett eine Zugabe, die nahtlos an die Energie des Haupt-Sets anschliessen konnte. Weil das fast nie gelingt bin ich eigentlich gegen Zugaben an Jazzkonzerten, meist ist die Luft draussen, das Energielevel weg … aber Decoy/Parker waren so geladen, dass sie gleich nochmal weitermachen konnten, während bei Abrams‘ Gruppe die Konzentration weiterhin hoch war. Carrott spazierte als erster allein wieder auf die Bühne, spielte zunächst nur in der Luft mit den vier Schlegeln, näherte sich dann dem Vibraphon über die Seitenstützen/wände an … und dann stiessen einer nach dem anderen, zuletzt der Maestro selbst, die anderen auch wieder dazu.

Es ergab sich dann, dass ich mit dem einen Veranstalter aus Novara (der schon oben auf dem Negroni-Photo zu sehen ist), der in Mailand lebt und einer Gruppe von Journalisten, mit denen ich kaum reden konnte bzw. eh etwas überflüssig war, essen ging. Das dauerte allerdings so lange, dass ich mich nach den – üppigen und exzellenten – Antipasti auf den Weg machte, um Claudio Fasoli zu treffen, mit dem ich um 14:30 beim Bahnhof verabredet war, der mich aber schon um 14 Uhr anrief. Der Spaziergang war enorm spannend, ich lief quasi der Peripherie der Innenstadt entlang zurück zum Bahnhof, vorbei am grossen Friedhof und danach durch Viertel, in denen neue Hochhäuser sich mit teils abbruchreifen alten zwei-, dreistöckigen Häusern und Überresten von einst dörflichen Ecken abwechselten.

Mit Fasoli gab es dann einen Kaffee und eine sehr nette Unterhaltung sowie einen Tausch von CD-Rs (Dank an MartinR, Fasoli hat sich wirklich gefreut über eine abspielbare Kopie von „Land“!) – auf meine Frage hin, was ihn denn zum Jazz geführt hätte, holte er aus, erzählte, wie er irgendwann Dixieland-Musik, Chicago-Jazz gehört hätte, schliesslich auch modernen Jazz – das Schlüsselerlebnis: Lee Konitz. Er hatte dann ein Altsax gemietet, das er in Raten abbezahlt hat, sich das Spielen selbst beigebracht (er meinte, auch bei Franco d’Andrea und Enrico Rava sei das so gewesen, Rava hat denselben Jahrgang wie Fasoli, d’Andrea ist zwei Jahre jünger). Was ihm am besten gefallen hätte – und immer noch gefällt – sei der Reichtum an Möglichkeiten, an Personalstilen und Ausdrucksformen, der im Jazz möglich sei – er erwähnte Konitz, Desmond, Parker und andere, die zwar dasselbe Instrument spielen, dies aber völlig unterschiedlich täten. Das mag für uns eine Binsenweisheit sein, aber einem Teenager im Italien der Fünfzigerjahre stand ja nicht, wie uns heute, der ganze Jazz auf Knopfdruck zur Verfügung. Er schwärmte dann weiter von Lee Konitz, den er demnächst in Mailand wieder hören würde und der nach wie vor in guter Form sei (das hatte ich ja leider letztes Mal anders erlebt, aber umso besser, wenn das nur ein schlechter Tag war, er war ja v.a. auch launisch und wohl nicht recht bei der Sache).

Etwas weniger schön war dann die Heimfahrt, mit einer halbwegs hysterischen angetrunkenen Italienerin, die ca. alle halbe Stunden wissen wollte, wie lange es noch bis Zürich gehe und wann wir ankommen würden (sie hatte eine Uhr und drei Handys und ein Ticket, auf dem die Zeit stand). Ich bin mir ziemlich sicher, hätte ich den Platz zu wechseln versucht (was nicht einfach gewesen wäre), sie wäre mir nachgelatscht und hätte mich beschimpft … aber gut, das gehört zum Zugfahren. Noch viel weniger schön war dann aber, wie der Zoll nach der Grenze zwei junge Afrikaner, die meinten, sie hätten keine Papiere, mitnahm (keine Ahnung wohin, der Zug hielt erst zwei Stunden später wieder).

Zum Abschluss noch dieser Schnappschuss mit yours truly (der vollbärtige jüngere Herr ist der eine Veranstalter von Novara Jazz aus Mailand, mit dem ich am Sonntag nach dem Konzert noch zum Essen mitging):

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