Startseite › Foren › Kulturgut › Das musikalische Philosophicum › Musikbewertung und Diskussionskultur › Re: Musikbewertung und Diskussionskultur
Daniel_BelsazarDer Solipsismus stirbt offenkundig nicht aus, obwohl er weiterhin grundverkehrt ist.
Jedes Individuum der Gattung Mensch ist ein soziales Konstrukt, und damit auch notwendigerweise jede Äußerung, jeder Ausdruck, der über unmittelbare instinktive Empfindungen und Handlungen hinaus geht – dies gilt für „Kunst“, wie auch immer sie definiert sein sollte, sogar in besonders offensichtlicher Weise.
Die Fähigkeit, mit der dies passiert, die oft „Geist“ genannt wird, ist unmittelbar konstituiert und untrennbar verbunden mit Sprache. Sprache als leitende Institution des sozialen Konstrukts wiederum ist als Bedingung ihrere Möglichkeit dialogisch angelegt, d.h. jede sprachliche („geistige“) Äußerung ist prinzipiell notwenigerweise auf einen Empfänger, einen anderen gerichtet, der sich im gleichen System bewegen und reagieren kann. [Es gibt keine Privatsprache => Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen]. Dazu gehören selbstredend auch musikalische oder bildende Künste, sie bilden spezifische Sprach- oder (synonym verstanden) Geistsysteme.
Der scheinbar isolierte Mensch in welchem Gedankenexperiment auch immer (Robinson, einsamer Gitarrist, Einsiedler etc) ist immer schon sozialisierter Mensch. Jede geistige Äußerung dieses Individuums ist – auch wenn er alleine ist -potenziell notwendigerweise auf einen anderen gerichtet, auch wenn niemand das jemals zu Gesicht oder Gehör bekommt. Insofern kann das durchaus ein Kunstwerk sein – es ist aber prinzipiell immer schon sozial, weil dies unabdingbare Vorausetzung zu seiner Erschaffung als geistige Leistung ist.
Klasse, bislang der für mich überzeugendste Beitrag. Der Captain schied vorhin verärgert aus, nachdem er der Kritik am Solipsismus vorwarf, sie sei zu „soziologisch“. Ich würde gerne den Begriff der Kommunikation ins Spiel bringen. Kunst ist prinzipiell vermittelnd angelegt, im Sinne der Übertragung, oder sogar aber – du hast dies ja genannt – im Sinne von Dialogizität.
Wer hier mitliest, merkt ja an allen Ecken und Enden, dass dieses „Kunst“-Ding hochkomplex ist. Der Künstler z.B. vermittelt ja auch nichts aus dem luftleeren Raum heraus – sein „Werk“ kann auch immer als Reaktion (=Antwort) auf künstlerische Entwicklungen/Traditionen verstanden werden.
Und dann noch der Aspekt der Interpretation: Nicht jeder Künstler ist ja im puristischen Sinne originär schaffend – macht Choosefruit Kunst, ist er also selbst „Künstler“, wenn er „A day in the life“ auf der Gitarre nachspielt (und keiner außer ihm hört zu…)?
Nicht_vom_ForumDas ist auch eine ähnliche Fragestellung. Analog zu dem, was Herr Rossi oben über Amerika schrieb, entsteht natütlich auch Schall, wenn niemand in der Nähe ist. Ein Geräusch aber erst durch einen Zuhörer (also jemanden mit Ohren).
Es entsteht bei mir dann allerdings folgende Frage: Ist das, was Choosefruit im stillen Kämmerlein auf seiner Gitarre zupft, überhaupt Musik? Oder wird das auch erst zu Musik, wenn jemand zuhört?
Wenn es Musik sein sollte, wäre es dann nicht auch Kunst in dem Sinne, dass Choosefruit sich hier „antwortend“ auf die künstlerische Tradition des Songs bezieht (und das, egal ob jemand dem lauscht). Steht sein Geist hier nicht in Verbindung mit dem, was zuvor „kultur-soziologisch“ in den Bereich der „Kunst“ verortet wurde? Auch er ist und bleibt schließlich – selbst im Zustand des Alleinseins (!) – immer ein soziales Wesen, und er ist in gewissem Sinn hier auch sein eigener Rezipient, der Schall bleibt nicht ungehört…
Was eine Definition von Kunst so schwierig, ja praktisch unmöglich macht: Diese entzieht sich einer solchen immer wieder auf quasi vorsätzliche Weise. Ich weiß nicht, ob es so viele „Dinge“ gibt, die genau das tun. Hier im Forum lese ich deswegen lieber Postings, die nicht so auf diesem „Kunst“-Ding rumreiten. Ich lese lieber konkrete Hinweise auf musikalische Qualitäten – oder auch im Sinne des Captain: die Infragestellung dessen, dass es solche Qualitäten gibt.
--