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nail75Wenn er Musik macht, die niemand sonst hört, ist es keine Kunst. Wenn er Musik notiert und dadurch anderen die Möglichkeit der Rezeption gibt, ist es Kunst.
Ich kann in dieser Bestimmung (Wenn jemand für sich allein spielt, ist das Musik, aber keine Kunst; zur Kunst wird Musik erst, wenn sie für andere existiert) nur eine definitorische Setzung erkennen. Man kann Kunst so definieren, aber warum sollte man das tun?
Wie gesagt, zur Kunst als Institution gehören sowohl Rezeption als auch Produktion, aber das ist ja noch kein Grund, einem Werk, das niemand zu Gesicht bekommen hat, den Kunstcharakter abzusprechen.
nail75Nehmen wir an, jemand behauptet dir gegenüber, er habe ein Werk geschaffen, das mit den größten Musikern der Welt mithalten kann, aber da er es niemanden präsentiert habe, kenne es niemand. Du forderst ihn natürlich heraus und sagt: „Dann lass doch mal hören!“
Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: der Musiker geht darauf ein – dann beginnt die Rezeption und die Kunst existiert. Oder er verweigert sich und damit existiert die Kunst nicht. Ob sie tatsächlich nicht existiert oder ob er wirklich Musik geschaffen hat, ist in diesem Augenblick irrelevant, kann aber ggf. zu einem späteren Zeitpunkt eine Rolle spielen.
Hier gehen zwei Arten von Aussagen durcheinander: Aussagen über das, was ist (das Werk existiert/ existiert nicht), und Aussagen über das, was wir wissen können. Die Existenz des Werks ist aber unabhängig davon, ob wir es jemals zu hören oder zu lesen kriegen, also von seiner Existenz wissen.
Wenzeldie Kultur, die das Kunstverständnis definiert, besteht wiederum aus Rezipienten…
Die in diesem Kulturkreis erarbeiteten Fähigkeiten und Kenntnisse sind jetzt aber verkörpert im Hirn und den Händen eines Künstlers, der sie auch dann einsetzen kann, wenn das einzige Publikum dafür nur in seiner Vorstellung existiert.
choosefruitDie aktuelle Wendung in dieser Diskussion erinnert mich an die Frage, ob ein umfallender Baum in einem Wald ein Geräusch erzeugt, auch wenn niemand in der Nähe ist, der es hören könnte.
Wenn ich einen Song schreibe, ihn aber noch keinem vorspielte, dann habe ich mich dennoch der Kunst des Musizierens bedient, unabhängig davon, dass dieser Song noch nicht veröffentlicht wurde. Die Rezeption der anderen legt lediglich fest, wie bedeutsam meine Kunst (mein Song) ist.
So sehe ich das auch. Die Mittel, mit denen der Songschreiber arbeitet (die tonale Musik, die Songform usw.) sind kollektiv erzeugt; der Künstler eignet sich die zu seiner Kunst gehörenden Fähigkeiten und Kenntnisse an und setzt sie schöpferisch ein, um etwas zu schaffen, was ihm schön vorkommt. Mir würde das schon reichen, um dem Geschaffenen Kunstcharakter zuzusprechen (ohne die Bedeutung der Rezeption kleinreden zu wollen).
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To Hell with Poverty