Re: Musikbewertung und Diskussionskultur

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go1
Gang of One

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Beiträge: 5,645

nail75Korrekt. Wenn es niemand wahrgenommen hat, ist die Existenz dieser Kunst noch nicht einmal ein Gerücht, sondern eine bloße Idee. Eine Idee ist aber keine Kunst. Die Rezeption gehört zur Kunst dazu – ohne Rezeption keine Kunst. Nichtbeachtung kann auch Rezeption sein, aber nicht Nicht-Existenz. Ein rein theoretisches Gedankenexperiment, aber um es nochmal klar zu sagen: Der junge Kerl, der Chamber-Pop macht, den niemand hört, macht keine Kunst – jedenfalls solange die Musik niemand außer ihm hört.

Die Antwort auf einen Beitrag, in dem ausgerechnet ein Stück Natur als Kunst bezeichnet wird (als sei die Unterscheidung von Naturschönem und Kunstschönem plötzlich in Vergessenheit geraten), mit dem Wort „korrekt“ zu beginnen, wäre auch dann verkehrt, wenn stimmen würde, was Du schreibst. Mir scheint diese These („wenn es nicht gehört wird, ist es keine Kunst“) aber auf einer Verwechslung zu beruhen: zwischen der Kunst als Institution und dem einzelnen Kunstwerk als Idee und Gegenstand. Zur Kunst als Institution gehört die Rezeption so gut wie das Schaffen, gehört das Zeigen, Vorführen und Darüberreden. Kunst ist gesellschaftlich, ein kollektives Unterfangen. Aber es ist doch verkehrt, diese Bestimmung auf das einzelne Artefakt herunterzubrechen.

Erinnern wir uns an Robinson Crusoe auf seiner Insel. Stellen wir uns vor, der wackere Mann finde am Strand ein angeschwemmtes Cembalo, setze es instand, spiele darauf die Stücke, die er einst gelernt hat, erimprovisiere sich neue und notiere sie mit Federkiel und Tinte auf demselben Pergament, auf dem er als guter Engländer auch seine Buchhaltung macht. Was er da tut, hört sich an wie Kunst, sieht aus wie Kunst, ist Kunst, auch wenn er selbst der einzige ist, der dies bezeugen kann. Die Kultur, die dieses Schaffen als Kunst definiert und die das Kunstverständnis unseres Schiffbrüchigen gebildet hat, besteht weiter, nämlich daheim in Dear Old Blighty. Freilich ist sein Tun, der Umstände halber, kein Beitrag mehr zur Kunstproduktion im Empire, sondern nur noch ein Privatvergnügen. Aber erst, wenn es niemanden mehr geben wird, der seine Noten lesen und seine Stücke spielen könnte, hören Mr. Crusoes Werke auf, Kunst zu sein, und werden zu bloßen Tintenklecksen auf Papier.

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To Hell with Poverty