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The Imposterwie ich auch nicht verstehen kann, dass man in ihm einen (sehr) guten Sänger sieht, seine herausragenden Qualitäten liegen sicher woanders
Na, was ist schon ein guter Sänger? Ich kann allem, was gypsy geschrieben hat, zustimmen und versuche mich noch an einer Ergänzung:
Für mich ist ein guter Sänger jemand, der mit seiner Stimme verschiedenen Stimmungen und Gefühlen Ausdruck zu verleihen vermag im weiten Feld zwischen Melancholie und Euphorie, Trauer und Glück, Zärtlichkeit und Wut, Hohn und Gelassenheit (weitere Begriffspaare bitte nach Belieben ergänzen); jemand, der eine Persönlichkeit (die eigene oder auch, wie ein Schauspieler, eine fremde, empathisch angeeignete) markant und unverwechselbar zum Klingen bringt; ein guter Sänger ist jemand, der andere erreicht, jemand, der einen Text zum Leben erweckt und nachfühlbar macht, jemand, der einer Melodie nachspürt und die darin enthaltenen emotionalen Potenziale auslotet und akzentuiert.
In gewisser Weise gehört dazu natürlich immer auch Handwerk, aber wie immer bei der Musik ist Handwerk kein Selbstzweck, und wie immer bei der Musik genügt Handwerk allein nicht im geringsten.
Ich habe für mich persönlich keinerlei Mühe, Dylan als großen Sänger zu betrachten, denn das Spektrum an Gefühlslagen, das er über den Gesang vermittelt, empfinde ich als außerordentlich weit – nur zwei Beispiele: Auf Blonde on Blonde oder Tempest transportiert der Gesang so ziemlich alles, was ich oben aufgezählt habe. Und die Stimme klingt, je nach dem, was sie ausdrücken soll, von Platte zu Platte so verschieden wie bei kaum einem anderen Sänger. Die Blood-on-the-track-Stimme hat mit der Desire-Stimme zum Beispiel eher wenig zu tun, um nur mal zwei dicht beieinander liegende Platten zu bemühen (zu schweigen vom Nashville-Skyline-Karamell oder dem L&T-Knurren).
Und was das Handwerk betrifft: Dylan hat weder einen Belcanto noch ein nuanciertes Vibrato noch einen sonderlich großen Tonumfang, er ist weder Sam Cooke noch Aretha Franklin, weder ein Operntenor noch Celine Dion (zum Glück!) – so what? Wir sind uns doch hoffentlich einig, dass ein Gitarrist, der 100 Noten pro Sekunde spielen kann, nicht zwangsläufig besser ist als Keith Richards oder Steve Cropper (es ist doch in Wahrheit verdammt schwer für jeden Gitarristen, besser als die beiden zu sein). Dylan jedenfalls hat Fähigkeiten auf der Habenseite, über die viele Sänger mit dreieinhalb Oktaven Umfang nicht verfügen: Seine Phrasierungskunst zwischen gewollter Undeutlichkeit, Genuschel und extrem prononcierter, bisweilen fast schon provokant überprononcierter Artikulation, sein Rhythmusgespür zwischen Tightheit und Hinterher-Geschluffel, Silben-Geknatter und Zerdehnung, seine Art, den Klang zu formen, mit Lautstärke-Dynamiken zu spielen, eine Melodie durch verschiedene Stimmtönungen oft innerhalb einer einzigen Zeile zu beleben, einzelne Worte zu isolieren und so mit Bedeutung aufzuladen, das alles sind für mich Merkmale eines großen Stilisten.
Was ich neben all dem sehr mag: Die Risikobereitschaft, den Mut zum Scheitern – es wäre heutzutage ja technisch ein lächerlich kleines Problem, Zitterer bei langen Tönen oder intonatorische Unsauberkeiten nachträglich zu korrigieren durch digitale Bearbeitung oder erneutes Einsingen einzelner Passagen. Nichts von alledem ist auf Shadows in the Night zu finden, und das finde ich toll. „Fehler“ nicht nur zuzulassen, sondern als ausdrucksvertiefendes Element zu nutzen, ist die Kunst vieler großer Stilisten.
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