Re: Coleman Hawkins – The Father of the Tenor Saxophone (1904-1969)

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Diese Box enthält die gesammelten Aufnahmen Coleman Hawkins‘ für das neu gegründete unabhängige Label Keynote. Auf vier CDs werden die Sessions präsentiert, die Harry Lim mit Hawkins produzierte – neben verschiedenen Formationen unter Hawkins‘ Leitung auch Gruppen unter der Leitung von Cozy Cole, Charlie Shavers und George Wettling. Stilistisch reichte die Bandbreite bei Keynote von Dixieland bis Cool, die Hawkins-Sessions präsentieren in erster Linie Swing, wie man ihn damals in den Clubs der 52nd Street hören konnte. Die Musik ist vom Allerfeinsten und zählt mit zum besten, was Hawkins aufgenommen hat.

Dazwischen kommen Sessions zur Sprache, die er für andere Label eingespielt hat – 1944 ist nicht nur das Keynote-Jahr sondern auch das Jahr der ersten Bebop-Session, wie ich ja schon erwähnte.

31. Januar 1944 | New York City | Coleman Hawkins Quintet Featuring Teddy Wilson (Keynote) – zum Auftakt hören wir Hawkins in einer hervorragenden Band mit Roy Eldridge und Teddy Wilson sowie Billy Taylor und Cozy Cole. Die Rhythmusgruppe ist wesentlich unaufgeregter und auch etwas konservativer als es die Rhythmiker – vor allem Oscar Pettiford – bei den Signature-Sessions waren. Doch für Hawkins ist auch dies ein perfektes Umfeld, er spielt entspannt auf, wirkt fokussiert und übernimmt auch den Löwenanteil der Soli. Eldridge und Wilson sind aber ebenfalls in allen Stücken zu hören. Wilson glänzt auch mit kurzen Piano-Intros und einer eleganten Begleitung, unterstützt von Taylors solidem Bass (der aber nicht die Anstösse von Pettiford geben kann) und Coles Schlagzeug, das leicht und steady und dennoch flexibel klingt. Von den besten zwei Stücken der Session, „I Only Have Eyes for You“ und „Bean at the Met“ sind jeweils drei Takes zu hören – warum ist unklar, denn alle drei sind äusserst gelungen. Doch man will nicht klagen, wenn man von Meistern wie Hawkins, Eldridge und Wilson mehr zu hören kriegt! In „Eyes“ ist Hawkins im zweiten Take besonders gut. Er spieltt in dem Stück zwei Chorusse, nachdem Eldridge das Thema mit Dämpfer (und umgarnt von Hawkins und Wilson) präsentiert und sich mit Wilson einen Chorus geteilt hat. Das Tempo ist in allen drei Takes dasselbe. Das ist im zweiten Stück, „‚S Wonderful“, anders – der zweite Take ist fast 20 Sekunden kürzer. Auf dem ersten Take ist das Ensemble zu Beginn etwas ungeschliffen (Eldridge präsentiert wieder mit Dämpfer das Thema, während Hawkins ihn begleitet), aber Wilsons Solo, das direkt folgt, ist brillant. Im letzten Chorus – Hawkins soliert mehr oder weniger weiter, Eldridge kehrt mit dem Thema zurück – kickt Cole die Band. Sein Spiel ist überhaupt bemerkenswert, auch wenn er ganz nur einen leichten Shuffle spielt wie im ersten Stück. Auch Taylor ist mehr als solide. Seiner Bekanntheit half nicht gerade, dass er bei Ellington von Jimmie Blanton abgelöst wurde, aber er gehört sicherlich zu den besten Bassisten seiner Generation (1906-1986). Der zweite Take von „‚S Wonderful“ ist dann heiss, vor allem Eldridge macht im Out-Chorus (er spielt ihn mit offener Trompete und growls) mächtig Dampf.

In „I’m in the Mood for Love“ überlässt Hawkins das Thema erneut Eldridge (wieder mit Dämpfer), seine Begleitschnörkel sind kaum hörbar – Wilson spielt die letzten acht Takte des ersten Chorus, dann übernimmt Hawkins. Er spielt meisterlich, mit bezauberndem, weichem Ton und gelassener Phrasierung, perfekt von Wilson, Taylor und Cole eingebettet. Wilson und Eldridge spielen dann im letzten Chorus nochmal je acht Takte – aber Hawkins‘ eineinhalb Durchgänge sind das Kernstück. Der erste Take war diesmal perfekt (bei „Eyes“ und „Bean at the Met“ ja eigentlich auch). Den Abschluss macht dann „Beat at the Met“, eine Paraphrase über „How High the Moon“ (das auch deutlich durchscheint) und damit auch mit Bop-Anklängen. Die Rhythmusgruppe setzt einen eleganten und doch treibenden Beat, Eldridge soliert mit Dämpfer, sehr erfindungsreich (in jedem der drei Takes!). Dann folgt Wilson, im zweiten Take mit Tatum-Anklängen. Hawkins spielt im zweiten Take heisser, und im dritten perfektioniert er seinen dramatischen holler aus dem zweiten Take, verfeinert und erweitert das Solo noch einmal.

16. Februar 1944 | New York City | Coleman Hawkins and His Orchestra (Apollo) – Das erste Stück dieser Session gilt als die erste Bebop-Aufnahme. Dizzy Gillespie leitete damals mit Oscar Pettiford zusammen eine Band. Hawkins gehörte unter den älteren Musikern zu den wenigen, die keinerlei Berührungsängste mit den jungen Wilden, den Beboppern, an den Tag legten. Max Roach, Howard McGhee, Miles Davis, J. J. Johnson oder Thelonious Monk nahmen damals als Sidemen mit ihm auf. Hier spielen: Dizzy Gillespie, Vic Coulson, Ed Vandever (t), Leo Parker, Leonard Lowry (as), Coleman Hawkins, Don Byas, Ray Abrams (ts), Budd Johnson (bari), Clyde Hart (p), Oscar Pettiford (b), Max Roach (d).

Pianist Clyde Hart öffnet „Woody’n You“ mit einem kurzen Piano-Intro, dann präsentiert die ganze Band das Thema – und as boppt in der Tat schon ganz schön, vor allem dank den Einwürfen der Trompeten und Max Roach am Schlagzeug, der mit Oscar Pettiford bestens harmoniert und langsam unterwegs zum eigentlichen Max Roach ist. Hawkins spielt ein engagiertes Solo, doch das Augenmerk gilt hier vor allem Dizzy Gillespies Solo. Er präsentiert sich hier erstmals nicht mehr als ein talentierter Schüler von Roy Eldridge, sondern ganz als sich selbst.

Das zweite Stück der Session ist „Bu Dee Daht“, ein boppigs Riff-Stück, das Johnson und Hart komponiert haben. Auch hier hören wir eine kurze bridge eines Trompeters, der wohl auch wieder Gillespie heisst (hier allerdings ein paar Töne nicht wunschgemäss trifft). Danach wird das Stück aber konventionell, Hawkins ist der einzige Solist, nur die Trompeten-Einwürfe klingen weiterhin modern. Das dritte und letzte Stück der Session ist „Yesterdays“ und gehört ganz Hawkins – er spielt unterwegs auch mal einen sehr hohen Ton (was er nur seltetn tat) und man merkt, dass Ben Webster hier auf ihn zurückwirkt.

17. Februar 1944 | New York City | Coleman Hawkins Quartet (Keynote) – Hawkins‘ zweite Keynote-Session entstand nur mit Rhythmusgruppe – aber was für eine! Teddy Wilson und Cozy Cole sind erneut dabei, zu ihnen stösst der Bassist Israel Crosby (am besten bekannt durch seine Arbeit mit Ahmad Jamals Trio in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre). Wilson ist in besonders guter Form und erhält diesmal auch etwas mehr Raum um seine Eleganz und sein tiefes harmonisches Wissen zu präsentierten. Wir sind wieder fest im Swing-Territorium, Hawkins spielt eher zurückhaltend, aber in „Imagination“ wird sein melodisches Talent einmal mehr deutlich und im letzten Stück, „Cattin‘ at the Keynote“ kommt er in drei Chorussen aus sich heraus (Doering verzeichnet ein Alternate Take davon, aber scheint es sich um einen Fehler handeln, die 4-CD-Box enthält keinen, Lord führt auch keinen auf, Morgenstern nennt den Alternate Take in seinen Liner Notes zur CD-Box „a figment of the discographical imagination“).

In „Flame Thrower „(WWII lässt grüssen) glänzt Wilson mit zwei Chorussen voller Einfälle, Hawk wirkt reserviert. „Imagination“ präsentiert ihn dann aber in Form – ein schier wollüstiger Ton, ein überwältigender Fluss von Ideen. Das Zusammenspiel von Wilson, der sich mit Hawkins als Solist abwechselt, wirkt wie ein Gespräch unter guten Freunden. „Night and Day“ von Cole Porter folgt, eröffnet nur von Crosby und Cole. Dann setzt Hawkins ein und präsentiert das Thema mit seinen langen Linien, das über weite Teile nur auf einem Ton bleibt. Wilson wirkt hier ebenso souverän wie Hawkins – eine weitere meisterhafte Performance. Den Abschluss macht dann „Cattin‘ at Keynote“, ein Romp, den Hawkins und Wilson mit breaks eröffnen. Wilson spielt dann zwei Chorusse, schnellfingrig und fliessend, Hawkins deren drei, kraftstrotzend. Das Thema wird nicht präsentiert, aber das Stück (keins mit einer üblichen AABA-Struktur) erinnert ein wenig an „Shine“.

22. Februar 1944 | New York City | Cozy Cole All Stars (Keynote) – am 22. Februar nahm Hawkins gleich zwei Sessions auf. Die Reihenfolge ist mir nicht bekannt. Da ist zunächst eine All Stars-Session unter der Leitung von Cozy Cole. Neben Hawkins sind auch Joe Thomas (t), Trummy Young (tb), Earl Hines (p), Teddy Walters (g) und Billy Taylor mit von der Partie. Es ist Hines, der Piano-Gigant, der das Geschehen am stärksten dominiert. Hines leitete damals noch seine eigene Big Band und war nur selten bereit, als Sideman aufzunehmen. Doch die Musiker sind allesamt in Form. Trummy Young hatte früher bei Hines gespielt, Hawkins braucht nicht vorgestellt zu werden, Joe Thomas setzte sich leider nie wirklich durch, nahm für Keynote jedoch mehrmals auf. Teddy Walters, der Gitarrist, verstarb früh, er spielt hier Soli im Stil von Charlie Christian und schlägt sich gut, definitiv weniger twangy als Jimmy Shirley in der Signature-Session ein paar Monate früher. Taylor und Cole sind schon von der ersten Keynote-Session vertraut, sie sorgen auch hier für ein stabiles, swingendes Fundament.

Die Session ist eine der schönsten aus dem ganzen Keynote-Katalog. Sie profitiert sehr davon, dass zum ersten Mal bei Keynote das 12-Inch-Format zum Einsatz kam, das Raum für etwas über fünf Minuten Musik bot. Zu den vier Stücken sind insgesamt sechs Alternate Takes überliefert, von jedem Stück einer, von „Father Co-Operates“ gleich deren drei.

„Blue Moon“ macht den Auftakt, für meinen Geschmack zu schnell gespielt, man erkennt den Song kaum. Hines spielt ein paar Töne, Cole und Taylor steigen mit einen soliden Beat ein, dann präsentieren die Bläser das Thema, Hawkins ergänzt da und dort einen Schnörkel. Hines spielt den letzten Teil allein und geht direkt in sein Solo über – he has come to play! Alle Musiker ausser Taylor und Cole solieren in diesem ersten Stück, Hines beide Male hervorragend, aber auch Trummy Young sticht heraus. Doch das Stück ist nur die Vorspeise …

Als nächstes hören wir das Meisterstück der Session, „Father Co-Operates“ – „Fatha“ war Earl Hines‘ Übername (als sei „Earl“ sein Vorname … der Adel war unter den alten Jazz-Pianisten endemisch ;-)). Hines‘ Ideenfluss ist beeindruckend in allen vier Takes, er überrascht, prescht hervor, erkundet die harmonisch abgelegensten Ecken, lässt nichts unversucht – dabei tut er eigentlich nichts, war er nicht immer getan hat, der Mann war schilcht: eine Naturgewalt. Bloss hörte man ihn damals (und eigentlich überhaupt) selten in einem solchen Rahmen. Das Stück, eine Riff-Nummer (die Bridge gehört Hines), ist ein schneller, Romp durch die Rhythm-Changes, die damals (auch bei den Beboppern) so beliebten Akkorde von „I Got Rhythm“. Hawkins ist der Aufgabe gewachsen, er spielt das letzte Solo – das Vorrecht des Ältesten, wenn man so will, entwickelt es von Take zu Take weiter, perfektioniert es, ohne dass dabei seine Spontanität verloren ginge. Thomas, Walters und Young (speak about Spontanität!) sind mit kürzeren Soli zu hören und sie alle schlagen sich wacker. Hines‘ Auftakt und Hawkins‘ Abschluss sind hier aber die grossen Ereignisse.

Nach diesem Feuerwerk gibt es eine romantische Ballade, „Just One More Chance“, in der Hawkins im Mittelpunkt steht. Er nutzt seine Chance und liefert ein weiteres Meisterwerk der hohen Kunst der Ballade ab. Auch Hines kriegt einen Chorus – man beachte die Tremolos! – und Walters erhält in diesem die Bridge. Die anderen Bläser legen da und dort ein paar gehaltene Töne unter die Melodien des Meisters, der eine bezaubernde Stimmung kreiert – in beiden Takes, beide sind perfekt. Den Abschluss der Session macht Trummy Youngs „Thru‘ for the Night“, eine Variation über „Honeysuckle Rose“ in einem swingenden mittelschnellen Tempo. Nach Hines‘ irrwitzigem Intro präsentieren die Bläser das Thema, verhalten, relaxed – und alle lieferen tolle Soli ab, ganz besonders Trummy Young selbst, der im zweiten Take ein Juwel von einem Solo bläst.

22. Februar 1944 | New York City | Coleman Hawkins and His Orchestra (Apollo) – Am selben Tag – und das ist echt kaum zu fassen – ging Hawkins auch wieder für Apollo ins Studio. Zu den drei Stücken 16. Februar kamen noch drei dazu, mit der exakt selben Band, mit dem einzigen Unterschied, dass Budd Johnson diesmal an Alt- und Tenorsaxophon zu hören ist. Und es ist nicht so, dass Hawkins sich eine Blösse gäbe – ganz im Gegenteil, in dieser Session entstand „Rainbow Mist“, sein „Update“ von „Body and Soul“, das dem Original in nichts nachsteht.

Doch als erstes wurde „Disorder at the Border eingespielt, eine Blues-Linie von Hawkins, die er bis zum Ende seiner Karriere spielen sollte. Dizzy Gillespie soliert zuerst, zunächst mit Dämpfer, dann mit offenem Horn – mit dem Dämpfer klingt er noch schwer nach Roy Eldridge, auf der offenen Trompete ist er schon er selbst. Hawkins folgt und geht gleich in die Vollen – mit Enthusiasmus und Biss. Das Riff, das die Bläser hinter ihm spielen, stammt übrigens aus „Jumping Blues“ von Jay McShann – also von Charlie Parker! Die Session ging mit „Feeling Zero“ weiter, einem langsamen Original von Hawkins, das ihn sebst ganz ins Zentrum rückt und erneut eine romantische Stimmung heraufbeschwört.

Dann folgt „Rainbow Mist“ (eine Improvisation über „Body and Soul“), benannt nach dem Rainbow Music Shop in Harlem, dessen Besitzer auch Inhaber von Apollo Records war. RCA hatte gerade „Body and Soul“ aus dem Katalog gestrichen und Hawkins wollte es mit einer neuen Version ersetzen. Sein Solo ist erneut grandios, sein Ton voller als 1939. Die Begleitung ist 1944 angemessen, es gibt nicht den Graben zwischen Hawkins und der Band – doch es ist vielleicht genau dieser Abgrund zwischen der steifen Band und dem innovativen Solisten, der die 1939er Aufnahme so speziell macht.

Am 1. Mai 1944 nahm Hawkins mit Cozy Cole eine weitere Session auf – mit dabei Emmett Berry, Walter Thomas, Budd Johnson, Johnny Guarnieri und Max Shopnick. Die vier Stücke erschienen auf Savoy, leider kenne ich sie nicht.

17. Mai 1944 | New York City | Auld/Webster/Hawkins Sextet (Apollo) – Die nächste Session paart Hawkins erneut mit wetieren Tenorsaxophonisten – dieses Mal sind es Ben Webster und Georgie Auld (der auch am Alt zu hören ist). Dazu kommen Charlie Shavers (t), Bill Rowland (p), Hy White (g), Israel Crosby (b) und Specs Powell (d). Leonard Feather hat die Session geleitet. Im ersten Stück, seinm eigenen „Pick-Up Boys“, ruft er die Solisten aus. Das Riff klingt etwas nach Ellington. Webster ist denn passenderweise der erste Solist, mit mächtigem Ton, aufgerauht, sich stellenweise fast überschlagend. Die Rhythmusgruppe stompt hinter ihm. Charlie Shavers spielt ein kurzes Break, dann folgt Auld mit einem sehr guten Solo, ebenfalls mit recht rauhem Ton. Hawkins spielt dann als letzter – und gewinnt die Battle, so es denn eine ist.

„Porgy“ von Jimmy McHugh ist das zweite Stück der Session – es gehört ganz Hawkins, der erneut beeindruckt. In dieser Periode war er wirklich eins mit seinem Instrument, spielt mit unglaublicher Gelassenheit und Souveränität. Auch „Uptown Lullaby“ von Feather ist eine attraktive Nummer, die Linie klingt irgendwie nostalgisch, Whites Gitarre hat wohl auch etwas damit zu tun. Auld greift hier zum Altsax, spielt es mit sattem cremigem Ton, irgendwo zwischen Willie Smith und Johnny Hodges entfernt, auch diese eine repetierte Note mittendrin (2:13 bis 2:16) und der anschliessende Lauf klingt sehr nach Hodges. Webster spielt im Ensemble Klarinette und schliesst nach Aulds Alt-Solo den Chorus am Tenor ab. Hawkins ist für die Girlanden am Anfang und Ende zuständig. Eine durchaus überraschende Nummer für eine solche pick-up band (darauf bezieht sich natülrich der Titel des ersten Stückes), aber da waren eben Meister am Werk.

Das letzte Stück ist aber fraglos das wichtigste der Session: „Salt Peanuts“. Hier stiehlt Charlie Shavers den Saxophonisten beinah die Show. Er hatte 1935 mit Dizzy Gillespie, dem Komponisten des Stückes, in der Trompetensection der Big Band von Frank Fairfax gespielt. Die vorliegende Aufnahme ist die erste dieses Stückes, Shavers spielt kurze Breaks zwischen den Soli und glänzt mit präzisen, boppigen Phrasen. Auld soliert als erster – und imitiert dabei täuschend echt Ben Webster. Dieser folgt als zweiter, dann Hawkins – und er ist ganz klar am fokussiertesten und entscheidet auch diese Runde für sich.

Alle drei Apollo-Sessions finden sich auf der oben abgebildeten CD „Rainbow Mist“ (Delmark, 1992), die zudem eine Session der Big Band von Georgie Auld enthält, ebenfalls aus dem Mai 1944. Budd Johnson hat alle Arrangements für diese Session geschrieben und auch ein „Concerto for Tenor“ komponiert, dessen Intro Monks „Round Midnight“ sehr ähnelt. Auld war ein guter Musiker, der immer swingte, aber sich nicht recht entscheiden konnte, wie er denn nun klingen wollte – in der Session mit Hawkins und Webster imitiert er ja in einem seiner Soli letzteren, später machte er eine Lester Young-Phase durch … ein Highlight der Session ist das Trompetensolo von Sonny Berman in „Taps Miller“. Berman (1925-1947) hatte leider viel zu wenige Möglichkeiten, sein Talent auf Platte zu beweisen. Die Session bietet jedenfalls einen hübschen Schlusspunkt nach den drei phantastischen Hawkins-Aufnahmen (und ja, klar, die Delmark-CD gehört ganz wie die Keynote-Box zum feinsten, was man von Hawkins haben kann – und im Gegensatz zur Keynote-Box sollte sie sogar noch problemlos und günstig zu finden sein).


Talmadge „Tab“ Smth, c. 1946-48 (Photo: William P. Gottlieb)

24. Mai 1944 | New York City | Coleman Hawkins and His Sax Ensemble (Keynote) – eine Woche nach der dritten und letzten Apollo-Session fand Hawkins sich erneut in bester Gesellschaft im Studio ein. Sein „Sax Ensemble“ mit Tab Smith (as), Don Byas (ts) und Harry Carney (bari) nahm vier Stücke für Keynote auf. Byas war einer von Hawkins‘ grössten Rivalen an der 52nd Street, Carney natürlich der Anker der Ellington Big Band, und Smith hatte mit Mills‘ Blue Rhythm und der Band von Count Basie gespielt. Auch die Rhythmusgruppe war erstklassig: am Klavier Johnny Guarnieri (einer der weniger, der wohl das Zeug zum Tatum-Nachfolger gehabt hätte, aber gereicht hat es dann irgendwie doch nie), am Bass Al Lucas, und am Schlagzeug der alte Bekannte Sid Catlett. Wieder erlaubte das 12″-Format längere Stücke, Tab Smith zeichnete für alle Arrangements.

„On the Sunny Side of the Street“ macht den Auftakt. Es gehörte Johnny Hodges, der es 1937 mit Lionel Hampton aufgenommen hatte – und Hodges war gewiss im Kopf von Smith, als er das Stück aufnahm. Hawkins spielt im ersten Take nach Smith ein relaxtes Solo, im zweiten Take hat sein Spiel mehr Biss. Nach Hawkins spielen Guarnieri, Carney und Byas je einen halben Chorus, die Saxophonisten mit Breaks (Byas im zweiten Take sehr toll). Dann führt Smith das Stück zu Ende – mit der längsten unbegleiten Kadenz, die es vor der Modern Jazz-Ära zu hören gibt. Ein äusserst gelungener Auftakt zu einer sehr schönen Session – kein Warmspielen nötig hier, von Beginn an wird konzentriert musiziert!

Mit „Three Little Words“ steigt das Tempo. Byas soliert als erster, sanft und flüssig präsentiert und umspielt er das Thema. Carney folgt, kraftvoll, freudig, nahe am Thema und mit gutem Support von Sid Catlett – und es wird klar, wie viel er Hawkins verdankt. Guarnieri, Smith und Hawkins folgen, letzterer bereit, es allen zu zeigen (die anderen Saxophone begleiten ihn in der zweiten Hälfte des Solos). Besonders toll ist hier Catlett zu hören, der die ganze Performance strukturiert und gestaltet, speziell hinter Carney und Hawkins ist er bemerkenswert. Hinter Guarnieri glänzt dafür besonders Bassist Al Lucas.

„Battle of Saxes“ ist eine Uptempo-Nummer von Hawkins über die Changes von „China Boy“. Hawkins spielt als ersters, geht in die vollen und gibt einen sehr hohen Standard vor. Smith spielt zwei Chorusse – sein bestes Solo der Session wohl. Guarnieri folgt, mit ein paar Phrasen à la Fats Waller. Byas folgt mit zwei Chorussen und nimmt Hawkins‘ Herausforderung an – leider keine backings durch die anderen Bläser, aber er schlägt sich sehr gut. Dann hören wir einen Chorus von Carney, überraschend flüssig und leicht. Doch dann übernimmt der alte Mann und zeigt einmal mehr allen, wer hier der Meister ist (die anderen begleiten ihn wieder – wirklich schade, das das bei Byas nicht auch gemacht wurde).

Das letzte Stück der Session ist „Louise“, ein alter Song von Whiting/Robin. Smiths Arrangement ist hübsch, Carney spielt die bridge, ansonsten wird das Thema gemeinsam präsentiert. Hawkins spielt das erste Solo – und man könnte ihn zunächst fast für Don Byas halten, so sehr nimmt er sich in der Gestaltung seines Tons zurück. Die Saxophon-Begleitung läuft hinter Guarnieri weiter, er spielt geschickt damit. Carney (im ersten Take zu leise) wird dann einmal mehr von Catlett angetrieben. Byas kriegt leider nur einen halben Chorus, Smiths Einstieg wirkt fast wie eine unhöfliche Störung. Hawkins bläst dann nochmal einen ganzen Chorus.

Insgesamt ist das eine sehr schöne Session – und ein Triumph, einmal mehr, für Hawkins, den kompetitiven alten Fuchs.

29. Mai 1944 | New York City | Coleman Hawkins‘ All American Four (Keynote) – Ein paar Tage später war Hawkins bereits wieder für Keynote im Studio. Die All American Four waren eine weitere Poll-Winners-Session, vom Esquire, wo nur Kritiker abstimmten. Teddy Wilson, John Kirby und Sid Catlett sind mit von der Partie bei einer einer weiteren 12″-Session, was den Musikern viel Raum lässt.

Hawkins ist unglaublich entspannt drauf in „Make Believe“, dem Jerome Kern-Stück, von dem zwei – perfekte – Takes erklingen. Sein Ton ist sehr schön eingefangen, überhaupt sind die Keynote-Aufnahmen klanglich sehr gelungen, gerade auch, was die Drums betrifft. Und es gab nie dünne oder verstimmte Klaviere. Auch von „Don’t Blame Me“ sind zwei Takes überliefert. Das Stück von Jimmy McHugh und Dorothy Fields bietet die langen Linien und interessanten Changes, die Hawkins so mochte. Auch Wilson schätzte den Song, hatte ihn in den Dreissigern schon solo eingespielt. Sein Solo im zweiten Take gehört wohl zu den besten, die er aufgenommen hat. Hawkins ist zugleich relaxed aber auch leidenschaftlich. Charlie Parker nahm das Sütck wenige Jahre später ebenfalls auf.

In „Just One of Those Things“ ist wieder der enstpannte Swing des ersten Stückes zu hören. Das Stück von Cole Porter ist wahrlich sophisticated, Catlett ist in der Begleitung einmal mehr brillant. Den Abschluss macht dann „Hallelujah“ mit Soli von allen vier Beteiligten. Ein stürmisches Finale einer weiteren herausragenden Session (Hawkins‘ beste für Keynote? Die Cole All Stars mal ausgenommen, bei denen Hawkins ja wirklich nur einer unter vielen ist).

Am 14. Juni fand eine weitere Savoy-Session von Cozy Cole statt, diesmal mit Berry, Eddie Barefield, Thomas, Guarnieri und Sid Weiss. Auch diese Aufnahmen kenne ich nicht.

Die Sessions vom Juli 1944 bis Januar 1945 folgen im nächsten Post, auch wenn sie eine Einheit mit den hier besprochenen bilden.

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