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chocolate milkViele Fragen und viele Antworten, Sokrates. Hat sich Deine Skepsis denn jetzt gelegt?
„Lonesome Street“ fandest Du eher enttäuschend, stimmts, die zwei weiteren Vorabtracks ebenfalls? („There Are Too Many Of Us“ und „Go Out“).
„Lonesome Streets“ hat mich in der Tat nicht erreicht, aber heute werde ich das Album endlich anhören. Falls Du fragen solltest, warum ich das nicht schon längst getan habe, wäre die Antwort, dass auch das Anhören eines Albums Lebenszeit ist (bzw. genauer, dass ich in den letzten Wochen arbeitsbedingt nicht den Kopf für Neuentdeckugen frei hatte.)
IrrlichtKann ich ehrlich gesagt nicht wirklich nachvollziehen. „Fremdschämen“ erzeugt bei mir anderes und persönliche Anekdoten stets nur dann, wenn sie eben nicht gut sind, sondern seicht, klischeehaft, larmoyant, überhöht, anbiedernd oder auf Effekt getrimmt. Auf Sun Kil Moons „Benji“ etwa ist Familie auch ein prägnantes Thema – die frühen Erfahrungen mit einem dominanten Vater, die Sorge um die Mutter und das Erleben ihres Alterns, der Tod des Onkels; Das alles trägt eine sehr aufrichtige und fühlbare Ebene in sich, die ich auch unverschlüsselt wahrhaftig und unpathetisch finde.
Hatte ich auch nicht erwartet, momentan sind wir in Paralleluniversen unterwegs, und das Wurmloch stört den Funkkontakt. „Benji“ kenne ich nicht; unpathetisch zu sein, halte ich für eine zwingende Voraussetzung; vielleicht ist es auch nur mein Zweifel am Konzept Familie, das sich hier in meinen Vorbehalten ausdrückt.
nail75In diesem Fall ist das aber glücklicherweise nicht der Fall. Mir fällt auch in der Musik auch auf Anhieb kein Fall ein, wo ich mich peinlich berührt fühlte. Musik verschlüsselt ja per se sehr stark und selbst für den Künstler sehr offensichtliche Aussagen sind nicht ohne weiteres verständlich.
Musik ja, aber was ist mit Texten? Da halte ich irrlichts Gedanken für richtig, dass sie unpathetisch sein müssen.
Doc F.Ist das nicht bei Kunst eher die Regel als die Ausnahme, dass Persönliches zum Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung wird? Da hast „Ezra“ erwähnt, aber man könnte auch Thomas Mann nennen, der sein Leben lang Menschen aus seiner Umgebung portraitiert hat, angefangen bei den „Buddenbrocks“. Stevens Beschäftigung mit Mutter und Stiefvater finde ich da sehr behutsam. Seine verstorbene Mutter war psychisch krank, alkoholsüchtig und hat die Söhne sitzen lassen. Da würde ich ihm nicht einmal vorwerfen, wenn er sie in den Texten verfluchte. Und Lowell, sein Stiefvater, ist ja Leiter von Stevens Label Asthmatic Kitty. Insofern scheint da ja eine stabile Beziehung zu bestehen.
Da gibt es für mich viel krassere Bespiele der Auseinandersetzung, angefangen bei den ödipalen Fantasien John Lennons („Mother“) bis hin zu Roger Waters „The Wall“ oder den sehr selbstzerstörerischen Texten einer Sharon Van Etten.
Mich berührt es eher peinlich, wenn ich durch einen Buchladen gehe und reihenweise Bücher finde, in denen Leute aus Lebenskrisen versuchen Geld zu machen und über ihr Burn-out Syndrom schreiben (hätten sie wirklich ein schweres Burn-out Syndom, hätten sie gar nicht die Energie, darüber 300 Seiten zu labern), über die Demenz von Oma Frida oder den Krebs ihres Dackels.
Weitgehend Zustimmung, vor allem zum letzten Absatz. „Ezra“ sollte nur ein Beispiel für ein besonders offensichtliches Vorgehen sein. Der Fall liegt aber anders, weil er von niederen Motiven wie Niedertracht und Vergeltung geprägt war, während Stevens ja eine Hommage vorhat, was positiver klingt. Vielleicht liegt auch darin meine Vorsicht bzw. Abneigung: Den Eltern öffentlich ein Denkmal zu setzen . . .
Lennon finde ich besonders peinlich, diese Urschreitherapie-Mamaverlustbeklagungs-Platte „Plastic Ono“ kann ich kaum ertragen, und sein Adam-und-Eva-Foto mit Yoko auf „Two Virgins“ ist unverzeihlich. Bei Waters würde ich entgegenhalten wollen, dass „The Wall“ das Rockstardasein als Ganzes spiegelt, und die Kindheit/Elternfrage nur ein Teilaspekt ist. Thomas Mann schließlich ist in seinen Tagebuch-Details grenzwertig (die bis zum Festhalten der Verdauungstätigkeit reichen, über die er vielleicht besser geschwiegen hätte), weil Beispiel für Narzissmus, aber meist sprachlich auf höchstem Niveau.
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„Weniger, aber besser.“ D. Rams