Re: "Handgemachte Musik" – Sinnvoller Begriff oder überholte Vorstellung?

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bullschuetz

Registriert seit: 16.12.2008

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ReinoIch erinnere mich an an Konzert von Bernhard Lassahn und Heiner Reiff. Dabei spielte letzter nicht das, womit er heute bekannt ist, sondern stand hinter einem Keyboard und drückte Knöpfe. Was davon live war, war nicht festzustellen. Und da ist eben die Verbindung von „handgemacht“ und „ehrlich“. Live gilt als ehrlich (und wer übt, fällt den Kollegen in den Rücken).

Okay, verstanden – und genau diese Kurzschließung von „handgemacht“ mit „ehrlich“ überzeugt mich nicht. Denn wenn jemand hinter einem Keyboard steht, Knöpfe drückt, und wenn dann der Zuhörer nicht weiß, was Erzeugung von Tonfolgen durch traditionelle Tastenbedienung und was Auslösung von vorgefertigten Tonfolgen durch Abruf per Knopfdruck ist – was soll daran „unehrlich“ sein? Der Künstler macht dem Publikum doch nichts vor, sondern lässt es schlicht im Unklaren. Das mag daran liegen, dass dem Künstler die Unterscheidung in dem Moment nicht wichtig ist, das mag daran liegen, dass der Künstler die Unterscheidung ganz bewusst, aus konzeptionellen Gründen, unterläuft – egal. „Unehrlich“ wäre es jedenfalls nur, wenn eine Band explizit mit dem Etikett und Verkaufsargument „handgemacht“ hausieren geht und in Wahrheit mit Einspielungen arbeitet. Aber auch dann wäre nicht die Musik „unehrlich“, sondern nur der Werbespruch zur Verkaufe der Musik.

Demons Beschreibung der Faszination Live-Erlebnis leuchtet mir natürlich ein: Der Zuhörer sucht den Reiz des Hier-und-jetzt, den Thrill einer Musiziersituation, in der ein Qantum Unberechenbarkeit mitschwingt, in der es Momente des Misslingens oder auch des ganz verblüffenden Gelingens geben kann, in der Platz ist für Risiken, Spontaneität und Kommunikation mit dem Publikum, es geht nicht einfach um fehlerfreie Reproduktion fertiger Kompositionen, sondern ums Gestalten des Moments.

Nur lässt sich diese Live-Situation eben nicht nur mit herkömmlichem Saiten-, Tasten- und Mundstück-Instrmentarium herstellen, sondern auch durch den kreativen Einsatz elektronischer Technologie (siehe die von mir oben genannten Beispiele Tab Two, Jamie Lidell und Elvis Costello – es gibt noch viele, viele mehr, bei denen noch viel weniger „Handgemachtes“ und viel mehr „Elektronisches“ zum Einsatz kommt). Und umgekehrt ist der Einsatz von konventionellem Instrumentarium nicht im mindesten eine Garantie für ein spontanes Live-Erlebnis, wie ebenfalls mehrfach beschrieben wurde. Mit anderen Worten: Ich plädiere dafür, das Ideal „Live-Erlebnis“ methodisch vom Prinzip der „Handgemachtheit“ zu trennen.

ReinoIm übrigen finde ich es schade, daß es hier keine Moderatoren gibt, die persönliche Beleidigungen unterbinden.

Falls damit auch linns Einwand gegen meine Argumentationsversuche gemeint sein sollte – also, das fand ich nun wirklich nicht schlimm. Ich glaube auch, dass an linns Argumentation was dran ist: Natürlich geht es bei der Huldigung des Handgemachten bisweilen darum, der „eigenen musikalischen Sozialisation ein Goldkrönchen aufzusetzen“ -allenfalls könnte man das etwas freundlicher ausdrücken: Wer in seiner Jugend erleben durfte, wie erregend das klassische Live-Erlebnis mit wilder Interaktion lauter Gitarren, Bass und Schlagzeug sein kann, der neigt womöglich dazu, beim sehr anders konzipierten Live-Erlebnis, das die Pet Shop Boys bieten, etwas zu vermissen.

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