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Nicht_vom_ForumNach diesem Kriterium wäre aber Live-Elektronik auch „handgemacht“; Auch wenn der Künstler viel schon vorher konfiguriert hat und das „Klangelement“ dann nur noch auslöst. Was ihn dann aber von einem Organisten nur noch durch die Frequenz der Auslösetätigkeiten unterscheidet.
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Dazu fallen mir dan wieder „elektronische“ Musiker ein, die in ihren Konzerten wesentlich spontaner auf den Augenblick reagieren, als viele Pop und Rock-Musiker, bei denen sich zwei Live-Versionen eines Stücks fast nicht unterscheiden. Ganz zu schweigen von Orchestermusikern, denen der Dirigent exakte Vorgaben macht, was sie im Hier-und-Jetzt-Moment zu spielen haben; und zwar wiederholgenau bei jedem Konzert das gleiche.
Da stimme ich Dir rundum zu. Spontan fallen mir drei Konzerte ein, in denen ich erlebt habe, wie fließend die Grenzen sind, wie spannend sie manchmal verlaufen und wie spannend es wird, wenn (Achtung, Hilfsausdrücke:) „handgemachte“ und „elektronische“ Musizierweisen ineinandergeblendet werden.
Beispiel 1: Tab Two – eingespielte Loops plus klassisches Instrumentalhandwerk an Bass und Trompete, gut vorbereitet und zugleich hochflexibel. Durch Bedienung von Fußpedalen schaltete Joo Kraus zwischen vorbereiteten Loops hin und her, bestimmte ihre Länge, ja nachdem, wie lange er solieren wollte. Die beiden errangen dadurch live eine Freiheit, die mit einer größeren Band wohl nur durch exzessives Proben erreichbar gewesen wäre. Kraus ging mit den Bandzuspielungen im Prinzip um, wie James Brown mit seiner Band (die interessanterweise immer wieder als „gut geölte MASCHINE“ bezeichnet wurde …).
Beispiel 2: Jamie Lidell solo – die Virtuosität, mit der er Loops und aus dem Moment heraus Passierendes verband, wie er mit der Stimme schnell was einsang und das dann wiederum live loopte und auf vorbereitete Backings setzte, war wirklich faszinierend.
Beispiel 3: Elvis Costello solo, der einen Offbeat-Rhythmus auf der Gitarre spielte, einen Takt aufnahm, live loopte, über den Loop dann die dräuende Single-Note-Melodie von Watching The Detectivs spielte, auch die wiederum loopte, über beides ein Solo spielte und schließlich – während das Feedback jaulte – eine Polizeisirene in die Hand nahm und dazu heulen ließ.
Ich halte es in der Tat auch für einen großen Irrtum zu glauben, dass „handgemachte“ Musik in der Live-Situation immer spontaner ist. Ich habe schon zu viele Bands gehört, die live einfach das vielfach im Proberaum Eingepaukte bis in die Soli hinein auf der Bühne reproduzierten und nirgendwo einen zusätzlichen Takt einbauen konnten, weil sonst die Lightshow-Programmierung nicht mehr gepasst hätte.
Ich muss allerdings einschränken: Natürlich wirkt sich bei vielen Bands die Arbeit mit Samples nicht unbedingt spontaneitätsfördernd aus. Seien es Percussion-Zuspielungen oder Keyboard-Playbacks vom Band – so etwas kann sich schon versklavend auf die Live-Performance auswirken. Der Witz aber ist: Wenn man die Maschinen handwerklich gut beherrscht, sie zu spielen weiß wie klassische Instrumente, dann verlieren sie ihren einengenden Charakter. Gerade, wer im Live-Kontext mit Zuspielungen, Samples, Loops kreativ umgehen will, muss „sein Instrument wirklich beherrschen“, um es mal in „handgemachter“ Terminologie auszudrücken.
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