Re: Wie hört ihr Jazz?

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mr-lovegrove

Registriert seit: 20.09.2013

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Eine extrem vielfältige und interessante Fragestellung.
Bei mir hat sich das „wie“ und auch die gesamte Rezeption von Jazzmusik über all die Jahre sehr gewandelt.
Ich bin mittlerweile zu einem Interpretations- bzw. Interpretenhörer geworden, dem die Aussagekraft und die spielerische Fähigkeit der Musiker und auch deren Interaktion deutlich wichtiger ist, als die Melodie oder die harmonische Struktur eines Jazzstückes.
Der Jazz ist für mich die reizvollste aller Musikgattungen, weil man hier aus jedem Solo, jedem künstlerischen Moment und jeder Sekunde eines Stückes immer und immer wieder andere Schlüsse ziehen kann und immer wieder anders emotional getroffen wird.
Es ist eine unendliche akustische Landkarte, die sich fortlaufend neu zeichnet.
Am Anfang war die Faszination eher oberflächlicher Art. Musiker spielen ein Thema und gehen in Soli über, kehren zum Thema zurück etc. Damals haben mich die Grundstrukturen und Stimmungen im Allgemeinen fasziniert. Reflexiv gesehen habe ich Lange Jahre das alles gar nicht richtig verstanden.
Was wohl auch daran lag, dass ich lange Zeit wahllos CDs aus allen möglichen Erscheinungszeiträumen gekauft habe, ohne Struktur und eigentlich ohne Zusammenhang. Das was mir beim Reinhören gefiel, wurde gekauft.
Dann kam eine Phase mit europäischem Jazz und hier begann ich schon, anders zu hören. Das war nach einer längeren Jazzhörpause. Nun kam langsam zusammen, was zusammen gehört. Jetzt wurde wichtig, wie die Musiker spielten. Ergab das einen tieferen Sinn in den Soli oder war das nur abrufen technischer Kabinettstückchen und Notenwixerei. Dieses Hören erreicht man auch nur durch Vergleiche und Referenzen.
Und dann kam John Coltrane. Spät, aber er kam und veränderte meine komplette Hörgewohnheit. Jetzt fing ich an, die fruchtbarste Ära der Jazzgeschichte systematisch zu hören. 50er/60er Jahre Jazz bestimmt seitdem mein Hören. Und seitdem zählt für mich primär der Interpret. Und je mehr Zeugs aus der Ära dazukommt, desto interessanter und vielfältiger wird es, und desto mehr entdecke ich bei Scheiben neueren Datums, von wo vieles kommt, was jüngere Musiker machen.
Die besten Jazzscheiben sind die, auf denen man das Gefühl bekommt, dass die Musiker eben nicht nur ihre Leistung abfragen, sondern für die Sache brennen und für etwas höheres einstehen. Das muss auch keine heiße Hardbop Session sein, das kann auch leises Material sein.
Wenn du merkst, dass die Musiker die Zeit anhalten oder wenn du das Gefühl bekommst, die Musik klingt in einem positiv- mentalen Sinne entmenschlicht und nicht von Menschen gemacht, dann haben die Künstler mehr als nur das abspielen von Noten geschafft. Diesen emotionalen Zustand als Hörer zu erreichen, bedarf aber sehr viel Hörerfahrung, viele viele gehörte Alben und ein bedingungloses Einlassen auf die Welt der improvisierten Musik.
Ich habe dabei auch nie viel über Jazztheorie gelesen. Gerade solche altgedienten Schinken wie der doch arg schulmeisterliche Berendt helfen weniger dabei, solche Hörerfahrungen zu machen. Sicher gibt es auch fantastische Bücher, die einem das Verständnis näherbringen und sozio-kulturelle Hintergründe liefern, aber als Nichtmusiker hat man eh eine ganz andere Zugansgweise zu Musik, als als Musiker.
Und dabei ists auch egal, ob die Musik aus meiner Anlage im perfekten Stereodreieck oder aus meinem Handy als mp3 läuft. Sicher gibt es da auch unterschiedliche Wirkungen und ich habe schon Alben gehört, die auf dem Kopfhörer wenig Sinn ergaben und erst über die Stereoanlage zu einem sinnhaften ganzen wurden, aber Jazz macht mir über beides Spass.
Jazz ist die einzige Musikgattung, die mich ganz erfüllt.

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