Re: Motown – Hits vom Fließband

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gypsy-tail-wind
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bullschuetzDanke dafür – und Du hast recht: Der Thread ist, sein Kernthema betreffend, zu interessant, um ihn mit einer Paralleldiskussion zu belasten (dafür ein „Entschuldigung“ in die Runde). Vielleicht mal an anderer Stelle oder in einem eigenen Motown-Thread mehr zu Deinen Antithesen, die ich für durchweg bedenkenswert halte, wenn ich auch den Punkten 1 und 2 in einer ausführlicher begründeten Antwort widersprechen und bei Punkt 3 mindestens für Differenzierung werben wollte.

Was es bei Punkt 2 zu widersprechen gibt, begreife ich nicht – wenigstens nicht am ersten, von mir gefetteten Satz:

Go1Zweitens ist der großartige Teil der Produktion durch die versammelten Talente und Mühen der beteiligten Musiker möglich gemacht worden und durch nichts anderes. Diese Kombination von Leuten wäre womöglich unter anderen Umständen, ohne Kommerzdruck, noch kreativer (weil freier und abenteuerlustiger) gewesen – wie willst Du das ausschließen? Sie hätten dann jedenfalls weniger Konfektionsware produziert und weniger Zeit mit der Ausbeutung von Erfolgsformeln verschwendet.

Die Diskussion mit den äusseren Umständen, dem Druck und ihrem Einfluss auf die Kreativität muss man – wie so manches – im Einzelfall führen (den jungen Marvin Gaye hat das vermutlich ziemlich fertig gemacht, irgendwann hatte er … was denn, Marktmacht? genug und zeigte er Gordy den Finger … aber irgendwelchen Girl-Groups – das soll jetzt nicht abschätzig klingen, ich kenne mich da einfach viel zu wenig aus, um spezifischer zu werden -, die quasi für das bereits laufende, geölte System gecastet wurden, tat der Enge Rahmen möglicherweise gut, ja ermöglichte überhaupt erst, dass sie als Teil von gelungenen Produktionen mitwirken konnten … es ist ja doch etwas anderes, ob man immer schon in der Kirche gesungen hat oder so (und dann irgendwann den „break“ erleben durfte, entdeckt wurde, vor eine fertig orchestrierte Maschinerie gesetzt wurde und Erfolg hatte), oder ob man Jahrelang mit Big Bands durch die Lande tingelte oder sich in R & B- oder Blues-Bands verdingte, um den steinigen Weg des Jazzmusikers einzuschlagen (bei dem man abgesehen von Momenten im Studio stets selbst die vollständige Verantwortung in künstlerischen – und geschäftlichen – Belangen übernahm, ob man nun wollte oder nicht). Auch da greift der Vergleich nicht … dennoch, die Frage, ob Druck, Zwänge, vorgegebene Rahmenbedingungen einen Musiker anspornen oder behindern, ist eine interessante, die durchaus in die vorliegende Diskussion passt. Aber ich bin wie gesagt der Ansicht, dass sich dafür keine eindeutigen Antworten finden lassen. Um nochmal ECM zu nennen: das Art Ensemble of Chicago kam mit dem Label offenbar klar … Lester Bowie und Roscoe Mitchell nahmen auch eigene Alben für Eicher auf (Mitchell tut das immer noch bzw. tat es zuletzt vor wenigen Jahren) … Dewey Redman oder Sam Rivers wiederum kamen damit offensichtlich nicht klar, ihre jeweils einzigen Alben bleiben auch beide etwas unter den Erwartungen, gerade Rivers hat in derselben Zeit anderswo erfolgreichere (künstlerisch – und klar ist das Geschmacksache, aber hey!) Alben aufgenommen – aber dafür nicht von der Publizität profiziert, die er mit ein paar ECM-Produktionen hätte erreichen können. Warum es bei den beiden nicht zu weigeren Alben kam, weiss ich nicht … vielleicht waren die beiden eingespielten auch einfach nicht gut genug, verkauften sich nicht oder was weiss ich, Redman war als Sideman von Keith Jarrett auch sonst im Dunstkreis von ECM unterwegs damals … aber es sollte halt nicht sein (schöner gewesen wäre es sowieso, wenn die guten Leute von Enja oder auch die von Black Saint ihm etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätten, beide verfolgten eine „schwärzere“ Ästhetik, in die er besser passte, und wenigstens mit dem Duo-Album mit Ed Blackwell, „Red and Black“ auf Black Saint resultierte da auch ein wirklich gutes Album).

Im Licht der ganzen Diskussion – in Sachen Leidensdruck usw. – finde ich die Aussagen von Sonny Fortune jedenfalls sehr interessant. Klar, auch das ist nur eine Meinung unter vielen, Fortune bezeichnet sich anderswo im Interview auch als „crazy“ und sagt in anderen Worten und lachend, dass er wohl kompromissloser als manch anderer gewesen sei … dennoch, der Mann war in den Siebzigern einer der allerbesten Saxophonisten, wie man auf einigen Aufnahmen hören kann, die er als Sideman gemacht hat. Aber ist irgendwas von ihm als Leader wirklich bekannt, was auch richtig gut ist, bzw. was seine eigene Auffassung des Jazz widerspiegelt? Fehlanzeige. Aber mehr Handy-Dandy-Männer und Grover Washingtons brauchte die Welt auch nicht … es gibt aus der Zeit natürlich auch faszinierende Entdeckungen zu machen heute, man findet auf Blogs manch ein Album, auf dem ein paar Perlen versteckt sind – aber auch zahllose, auf dem Stimmen zu hören sind, die im Umfeld der Produktion völlig verloren und verschenkt sind … dass einige Jahre später ein Backlash einsetzte, der akustische Jazz im Gefolge des Aufstiegs von Wynton Marsalis sich zurückmeldete, überrascht so gesehen kaum. Bloss verrannte man sich da bald auch wieder in eine Sackgasse – oder das war von Anbeginn eine Sackgasse, was weiss ich … heute ist die Szene ja zum Glück vielseitiger, seit den Neunzigern wird auch an elektrische Spielweisen angeknüpft auf eine Art und Weise, in der die Musik fortgesponnen wird … wobei die stilistische Zersplitterung sich auch auf dem Markt widerspiegelt – es gibt eine unüberschaubare Menge an Labeln und Releases, das Produkt ist in dem Sinne entwertet, als dass es oft nur noch als Visitenkarte dient, als Türöffner, um überhaupt in den Clubs und Säälen auftreten zu können – aber als Einnahmequelle taugt das Album heute in den allermeisten Fällen fast gar nichts mehr.

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