Re: ROLLING STONE: essential reading?

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anita

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Sonic JuiceNaja, ich würde generell schon sagen, dass persönliche Begegnungen, wenn man sie denn anschaulich und klug für einen Artikel aufbereitet, deutlich mehr bieten können als Twitter-Tweets. Im konkreten Fallbeispiel kann ich dich aber gut verstehen.

Um mal zur Ausgangsfrage zurückzukommen: Was mir im Musikjournalismus vielmehr generell – und auch beim RS – fehlt, ist eine klare, streitbare Haltung zu popkulturellen und gesellschaftlichen Fragen. An der SPEX konnte man sich ganz früher wenigstens mal reiben, etwa wenn da eine „klammheimliche“ RAF-Verklärung durchschimmerte oder sonstige Linksaußen-Positionen. Aber man hatte zumindest immer das Gefühl, das die Redaktion sich klar positionieren will und für eine Haltung steht, dass man klare Gegner hat, zu denen auch die sog. bürgerliche Presse zählte, und dass man sich gerne mit einer gesunden Arroganz auch mit diesen Gegnern anlegt. Und dass der Leser sich damit irgendwie identifizieren oder zumindest solidarisieren kann, weil man sich freut, dass es Leute gibt, die mal an den richtigen Stellen auf den Putz hauen. Auf ganz anderem Feld war auch die Rock Hard ein solches Blatt mit Haltung und offenem Visier, vielleicht ist sie das ja heute noch.
Mittlerweile sind eigentlich in allen Musikmagazinen professionelle, aber eben auch vor allem nette Journalisten die Regel. Es ist völlig egal, ob die heute für den Stone, morgen für die Spex und übermorgen für Business Punk schreiben. In vermeintlich gesellschaftspolitischen Kolumnen äußert man sich über unhöfliche Konzertgänger oder Sachen, gegen die sowieso alle irgendwie sind – Spießer, Rechtsradikale, Populisten, Homophobe oder so. Meist irgendwie ironisch, süffisant, nicht angreifbar. In der Popmusik ist grundsätzlich auch alles irgendwie ok, selbst die Cover-Helden sind in allen einschlägigen Magazinen oft austauschbar, ob Jan Delay nun gerade auf dem Stone oder auf der Spex ist, who cares? Es gäbe ja genug Anlass, mal in einem größeren Artikel zu schreiben, dass Delay nach den Beginnern eigentlich nicht mehr viel interessantes gerissen hat und sich jetzt mit seiner aktuellen Platte richtig ins Knie schießt. Aber er wird statt dessen über 12 Seiten abgefeiert, als hätte die Welt auf eine Schlager-Rockplatte gewartet. In der Spex wird allen Ernstes vor ein paar Monaten Casper als „Deutschlands bester Rapper“ gepriesen, was noch haarsträubender ist.
Wobei ich nicht mal glaube, dass da eine bestimmte Strategie dahinter steckt, sondern dass der Konsens durchaus da ist, dass irgendwie die meisten Veröffentlichungen von Springsteen über Rammstein bis Casper schon mindestens ok sind, man ist eh mit allen auf Facebook befreundet.
Wann ist einem zuletzt oder überhaupt mal der Gedanke gekommen „na, das ist ja allerhand, mal sehen, was der Rolling Stone dazu schreibt!“ Mir ist schon klar, dass das u.a. mit den marktwirtschaftlichen Bedingungen des Journalismus zu tun hat und die weltanschaulich oder auch popkulturell klaren Fronten der 80er lange vorbei sind. Auch die taz und die Grünen haben eine solche Entwicklung zur Bürgerlichkeit und Harmlosigkeit durchlaufen. Aber schade ist es schon. Wenn man liest, wie sich (zugegeben: britische) Journalisten früher in Interviews mit Künstlern wie Nick Cave bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen angelegt haben, dann macht einen das schon nostalgisch.

:bier:
Sehr nachdenkenswert und höchstens noch um die Anmerkung zu ergänzen, dass all dies letztlich Symptome dafür sind, dass Pop offenbar einfach nicht mehr viel bedeutet, weder denen, die ihn hören, noch denen, die darüber schreiben, noch, so könnte man manchmal glauben, denen, die ihn machen. Für Erstere ist es Entertainment und längst nicht mehr Ausdruck einer womöglich sogar gesellschaftspolitischen Haltung. Für Zweitere eine angenehme Art Geld zu verdienen und sich beruflich zu profilieren. Und für die dritte Gruppe, so scheint mir, vor allen eine Karriere-Option.
Musikmagazine sind, so gesehen, vor allem Marketing-Instrumente.

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"Du nicht, Schickelgruber!" (Der Wendepunkt, Klaus Mann)