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äh… 2013!
was die konserven angeht, habe ich mich vom boxen- und komplettierungswahnsinn hier etwas anstecken lassen, was natürlich kein vorwurf ist, noch nicht mal an mich, sondern einfach der hervorragenden informationsverbreitung hier geschuldet ist. am bescheuertsten wohl diesbezüglich die miles-mono-box, aber sie erfüllt zumindest den zweck der schnellen verfügbarkeit von alben, die ich sonst nur aus den großen boxsets zusammenprogrammieren müsste.
resultat sind ferner kaum gehörte cam-boxen von threadgill, dixon und pullen, bei denen ich auf mein zukünftiges feuerfangen warte. auch brötzmanns zusammengfasste long story liegt bislang ignoriert hier rum, da ich vorläufig nur wissen wollte, wie er mit jason adasiewicz und im waits/revis-trio klingt. zum rest komme ich aber wohl in den nächsten tagen.
miles bootlegs vol.2 kann ich im kontext des gesamten im netz herumschwirrenden materials aus der zeit nicht beurteilen, für mich funktioniert die sehr gut, weil ich corea erst seit der jack-johnson-session-box als grandiosen milesmitspieler kenne und mich sehr über neue beweise diesbezüglich gefreut habe, auch wenn soundqualität und coreas zeitweise defektes e-piano versuchen, einen strich durch diese rechnung zu machen. sehr mag ich auch den videomitschnitt auf der dvd, auf dem sich holland und dejohnette handtücher zuwerfen und corea hinter einem tönevonsichgebenden schrank sitzt und ein unpräpariertes publikum belästigt.
william parker: wood flute songs. anthology/ live 2006-2012. aum fidelity.
das wäre dann mein boxenereignis des jahres, ganz frisch, seit 3 tagen. logischerweise, da ich dieses quartet, obwohl sicherlich das eingängigste, was man von parker hören kann, heiß und inständig liebe und ich diese live-aufnahmen aus 6 jahren einen wirklich riesigen gewinn finde. zwei komplette konzerte erstmal, je zwei sets, entertaining, verspielt, hintergündig witzig von parker anmoderiert. die grooves wechseln schnell und suitenhaft von swing zu frei zu reggae zu funk zu vorderer orient zu nordafrika, interessanterweise bei weiträumigem umfliegen von allem, was man entfernt als „ballade“ bezeichnen könnte. powerplay also, im fortschreiben einer alternativen jazztradition, die sich in hommagen an jenkins, gilmore, lincoln, mcintyre, hill usw. äußert. die dezidierte nicht-veteranen-band, die sich hier gegenseitig ideen zum fraß vorwirft, entwickelt dabei eine große freiheit, die spaß macht und machen soll, aber auch bewusst kratzbürstig bleibt: „the term succesfull artist is an oxymoron once you become popular you might be doing something wrong, if your art is doing what it is supposed to to you should be on the most-wanted list.“ (w.p.)
naheliegende referenz ist natürlich das ornette-coleman-4tet, vor allem angesichts der cleveren kürzelthemen und dem perfekten inside/outside-playing. nur ist parker mehr mingus als haden und drake ist in seinem ständigen beat-zuerfinden etwas völlig anderes als eine losgekoppelte swingmaschine, wie sie higgins, blackwell, ein neunjähriger sohn oder auch ein drumcomputer hinkriegen können. obwohl man immer wieder den atem anhält und nach luft schnappt auf diesen 8 cds, sind die momente tatsächlich unglaublich, wenn james spaulding, billy bang und bobby bradford einsteigen. spaulding ist rob brown sicher so nah wie kein anderer altsax-kollege und bradford vermag ja tatsächlich aus dem stehgreif im parker-system die ornette-coleman-box zu öffnen.
man ht diese band aber nicht ganz verstanden, wenn man die melancholisch verschattete „raining on the moon“ band mit leena conquest und eri yamamoto außen vor lässt, in der sich poetry, song und quartett nochmal ganz anders durchdringen und befeuern. auch wenn conquest gegen ende sich an der sängerinnenkrankheit des zuvielsingens erkältet, scheint mir das doch ein wirklich unvergleichlicher beitrag zum zeitgenössischen jazz zu sein.
ansonsten wären auf meiner bestenliste diesjähriger jazzalben:
eric revis trio: city of asylum. clean feed.
bestes konzert und bestes album. einer band, der ich vom ersten ton an vertraue. ich kann wenig mehr dazu sagen, im wesentlichen ist das freie musik (die cd dokumentiert das erste aufeinandertreffen überhaupt), in denen mir alle drei etwas zu sagen haben und die ich im freien fluss ihrer ideen wunderbar aufeinanderbezogen und doch tendenziell emanzipiert finde. sowas trifft entweder den nerv oder überhaupt nicht, mehr kann man dazu nicht sagen.
chisholm/ penman/ rückert: nearness live. moontower foundation.
im januar erschienen, ein bisschen später schon in einem bft verbraten, dort schon viel darüber geschrieben. auf die dauer von 10 stücken scheint diese musik etwas eintönig, was aber täuscht, denn jeder moment ist voller facetten, vor allem im ton chisholms, den ich als ein wirkliches, aber sich seit jahrzehnten ankündigendes wunder empfinde. habe mich sehr gefreut, dass er sich hier mal im trio präsentiert, nicht nur in den konzeptionell ausladenen und manchmal esoterisch verformten formationen, aus denen ich ihn neben der root-70-band hauptsächlich kenne. (das neue album von root 70 habe ich übrigens noch gar nicht gehört, fällt mir ein.)
são paulo underground: beija flors velho e sujo. cuneiform.
mit rob mazurek habe ich ja genauso wie mit william parker das problem des nachverfolgens angesichts eines immensen outputs von mindestens 4 alben im jahr. vom sao paulo underground trio (+ mauricio takara & guilherme granado) verpasse ich allerdings nichts. das hier ist die vierte veröffentlichung und – wie die drei zuvor – ein einzigartiger trip. wenn es einen rechtmäßigen on-the-corner-nachfolger gibt, dann das, was diese band macht, wenn auch die schichtung und verdichtung von heterogenstem sessionmaterial heute auf elektronischem weg leichter geht als zu teo maceros zeiten. aber was die hier auftürmen und fließen lassen, kapiert kein mensch beim ersten hören, aber da man immer wieder dahin zurück kommt, erschließt sich das irgendwann durch das verlieben in details, in überfülle, ins lustvolle ausliefern an die überforderung und die wunderbare kornettstimme, die sich aufreizend draufsetzt.
eine parallele anstrengung, die ebenfalls kaum in den jazzpolls auftauchte, war das hier:
the necks: open. ReR/megacorp / northern spy.
nach der grandiosen MINDSET, der ersten vinyltauglichen necksveröffentlichung (2×20 minuten statt 1×60 minuten!) jetzt wieder ein fortlaufend über eine stunde bewegtes einzelstück, allerdings (gruß an macero) aus ganz viel sessionmaterial zusammenkompiliert. das ergebnis ist so esoterisch, unangestrengt und entspannt wie selten, was mich manch anderes album preferieren lässt, aber ich finde OPEN immer noch toller als das meisten andere zeug, was sowas versucht (hallo, diesjährige elektronik-polls).
zu NICOLE MITCHELL’S ICE CRYSTAL: AQUARIUS (delmark) habe ich schon viel warmes und dann doch wieder relativierendes geschrieben, trotz allem ein schönes album aus diesem jahr.
steve coleman and five elements: functional arrhythmias. pi.
ja, dieser herr ist auch wieder dabei. und er bewirbt sich mit finlayson (dessen debüt auf pi ich auch noch nicht kenne) und den alten und wieder neuen kollegen tidd und rickman für die ornette-4tet-nachfolge (da muss er aber gegen william parker zurückziehen). mal ohne jen shyu, an die ich mich nie so recht gewöhnt habe. aber mit dem ultraleichten schlagzeug von rickman und den gewohnten vertrackten rhytmen und verwinkelten themen, die ja trademark sind und nicht mehr so einzigartig wie jahrzehnte vorher (weil es einfach andere gibt, die sowas aufgreifen). entsprechend entspannt funktioniert das, auch wenn coleman mal wieder den teufel tut und sich von der inneren struktur sowenig löst wie möglich – er macht es sich nie leicht, spielt nicht einfach darüber hinweg wie jeder andere es täte, sondern schreibt seine improvisationen noch in das komplexe rhythmusgeflecht mit hinein. finlayson ist da deutlich lockerer und segelt ein bisschen über die taktstriche hinweg, was zusammen einen schönen kontrast ergibt. so richtig verstehe ich die haltung dahinter immer noch nicht, aber das habe ich nie und das hat mich nie davon abgehalten, colemans musik aufregend zu finden.
ein album, was mich am ende mehr und mehr gekriegt hat, ist (was ganz anderes) das hier:
marc cary: for the love of abbey. motema.
abbey lincolns langjähriger pianist, ihr in seinen großen gesten, die riskant an abgründe führen, nicht unähnlich, hat sein erstes soloalbum veröffentlicht, mit songs aus der gemeinsamen zeit. das ist so emotional wie es gemeint ist und überzeugte mich erst und dann umso heftiger nachdem ich aufgehört habe, abbey lincoln da herauszuhören. das ist ein ganz eigenständiges ding, fett, linkisch, größenwahnsinnig, dazwischen immer wieder fantastisch und sehr mutig – ein ganz wunderbarer musiker, der noch nach seinem kontext sucht – der hier passt schon mal.
ansonsten war ich von den neuen sachen von dave holland und matthew shipp eher enttäuscht, wie ich auch schon schrieb. das besonders kitschy jarrett trio, mit „somewhere“, „stars fell on alabama“ und „i thought about you“, selbstvergessen, schwelgerisch, leicht rheumatisch, erfüllt seinen zweck sehr gut: immer dann sich zu empfehlen, wenn ich aus der ich-brauche-von-denen-nichts-mehr-haltung herauskomme und genau den jarrett-trio-moment haben möchte, den nur sie hinkriegen. aber zu einer wirklichen empfehlung möchte ich das nicht machen.
matana roberts habe ich sehr bewusst ignoriert, nachdem ich festgestellt habe, dass ich coin coin chapter 1 nur unter großen anstrengungen ertrage. intellektuell finde ich das alles großartig, aber als musikerin sagt sie mir leider gar nichts. und einen wirklichen sinnlichen appeal üben ihre sachen auf mich auch nicht aus. das wird irgendwann mal nachgeholt, wenn der hype vorbei ist und andere kontexte auftauchen, in denen sie für mich wieder spannend wird.
LIVE
mal wieder fast gar nichts. unverständlicherweise, denn in der stadt, in der ich lebe, ist nun wirklich einiges los. irgendwann bin ich mal in ein set von tobias delius und tristan honsinger reingerauscht, in einer neuköllner zimmerkneipe, vor 30 menschen unter 40, das war hübsch. boom box (borgmann, ando, kellers) habe ich auch mal gesehen (oder war das noch letztes jahr?), das war schon mal besser. so richtige live-erlebnisse hatte ich dann in new york, beim visions festival im jetlag, besagtes eric-revis-trio mit kriss davis und andrew cyrille, in das ich mich schon bei ticketkauf verliebt habe, als sie gerade anfingen und ihre ersten töne in den eingangsbereich des brooklyner roulette-clubs schickten. die anderen sachen in dieser nacht, ein quälendes sonny-simmons-dave-burrell-duo und das durch pheroan ak laff vereitelte spitzentreffen von pope, crispell, workman und ihm, haben sich nicht so empfohlen. ein paar tage später war ich noch bei henry threadgill, habe mir zooid angesehen und mich an frühe sachen von steve coleman erinnert gefühlt – leider war die neue jazz gallery zu hell, zu schwach besucht, zu sehr gallerie, als dass ich in stimmung gekommen wäre – außerdem ging threadgill, wie mir schien, von seinen eigenen komplexen kompositionen k.o., aber das machte nichts, zwischendurch war es toll genug und ich habe es sehr genossen, mit ihm im fahrstuhl zum rauchen auf den broadway runter zu fahren.
PROJEKTE
alice coltrane natürlich, das kann man ja nachlesen. geht ja auch noch weiter. toll zu sehen, wohin die wilden siebziger führen konnten, welche originelle eizelstimmen der jazz damals hervorgebracht hat. in diesem kontext bin ich allgemein sehr in die früh70er gerutscht, was toll war und mal wieder zu mwandshi führte, zu dem es jetzt ein ziemlich verzichtbares buch gibt (das einzige zu alice coltrane kann man dagegen wirklich empfehlen – daneben las ich ein bisschen in der autobiografe von gary burton, dessen musik ich leider sehr langweilig finde, deren pointe aber natürlich in der horrorerzählung liegt, wie es war, als weißer, notenlesender, musiktheoretisch bewanderter, schwuler mit stan getz drei jahre on the road zu sein).
die beschäftigung mit clifford brown hat leider gar nicht funktioniert, vielleicht kann ich wirklich nichts hören, was vor ende der 50er aufgenommen wurde, jedenfalls nicht mit emotionaler anteilnahme, schon mit respekt vor dem netten, leichten, gut gemachten.
nächstes jahr liegen an: sun ra, endlich mal irgendwie repräsentativ, wie auch immer das gehen soll. vielleicht beschränke ich mich erst einfach mal auf die 50er (und verstehe dann die 50er besser?). nachdem ich kürzlich mike huckaby ein paar originalbänder von ra, unveröffentlicht, in einem dj-set auflegen gehört habe, komme ich da nicht mehr drum herum.
und: abdullah ibrahim, komplett. darauf habe ich nach der entdeckung von bea benjamin große lust, obwohl ich vieles von ihm kenne; aber eben vieles auch noch nicht.
cecil taylor spare ich mir mal für 2015 auf.
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