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Im April 1960 stiess Lateef für eine Vee Jay Plattensitzung zur Gruppe der Adderley-Brüder. Cannonball war nicht dabei, aber Nat (cor), Barry Harris (p) und Sam Jones (b) waren zur Stelle, als Drummer Louis Hayes sein erstes Album als Leader einspielte. Lateef und Adderley ergänzen sich perfekt, das verspielte, quirklige Kornett und das erdenschwere und doch überirdische Tenorsaxophon Lateefs. In Sonny Reds „Teef“ bläst er furios, im unmittelbar folgenden „I Need You“ von Barry Harris läuft er zu seiner Balladen-Bestform auf und spielt ein herzzerreissendes Solo – macht sich Gedanken über die conditio humana und lässt uns teilhaben. Harris ist in der Ballade ganz er selbst: glasklarer Ton, perfekt modellierte Linien, aber auch Zwischentöne, ghost notes. Die weiteren Stücke stammen von Cannonball und Nat Adderley („Rip De Boom“ bzw. „Sassy Ann“, zwei schnelle Bebop-Nummern mit Raum für den Leader), Lateef („Hazing“, der Opener des Albums mit einem Stop-and-Go-Thema über marching-Rhythmen) und erneut Harris (ein eher verspielter „Back Yard“, nicht so funky, wie der Titel erwarten liesse).
Für mich ist dieses Album ein vergessenes minor masterpiece des Hardbop – was am Label liegt wie auch an den Beteiligten … Louis Hayes hat mit seinen Bands für den Jazz wie seine Kollegen Roy Haynes und Elvin Jones jahrzehntelang eine Art informelle Hochschule oder Kaderschmiede geleitet, wie die anderen zwei stand er diesbezüglich in der Wahrnehmung stets im Schatten Art Blakeys. Das Album markiert einen wundervollen Start in eine lange Karriere, auch wenn er hier ja bloss nomineller Leader ist.
Es gibt wenigstens zwei CD-Ausgaben, eine in Kobination mit Buddy De Francos „Blues Bag“, eine andere (oben abgebildet) von 2002 mit Alternate Takes von fünf der sechs Stücke (von „Back Yard“ gibt es keinen weiteren Take). Genau verglichen habe ich die Takes nie, aber gerade fällt mir auf, wie toll Lateef in „Hazing“ (Take 1) sein Solo öffnet – und in der Tat, der Einstieg im Master ist ganz anders und weniger gelungen, wie ich finde. In den Siebzigerjahren erschien die Platte auch unter Lateefs Namen als „Contemplation“.
Im Mai 1960 nahm Lateef sein erstes von zwei Alben für Riverside auf, ein programmatisch betitelt und becovertes: Lateef sollte, so Orrin Keepnews‘ Plan, gleichermassen als Tenorsaxophonist, Flötist und Oboist vorgestellt werden. Als weiterer, die Exotik steigernder Faktor, gesellte man ihm Ron Carters Cello bei. Hugh Lawson war zurück am Klavier, Herman Wright und Lex Humphries spielten Bass und Schlagzeug. Den Auftakt mach „Goin‘ Home“, das Thema aus Dvoráks neunter Symphonie, das Lateef nach einem Schepper-Intro und gestrichenen Tönen in zügigem Tempo am Tenor spielt. Auf den weiteren Tenorstücken, „Quarantine“ von Abe Woodley und dem Oldie „Ma – He’s Makin‘ Eyes at Me“, setzt Carter aus. Die Oboe ist in einem bouncenden „I’m Just a Lucky So-and-So“ zu hören (vermutlich war das Stück meine allererste Begegnung mit Ellington, die spätere Ausgabe dieses Albums unter dem Titel This Is Yusef Lateef steht wie erwähnt bis heute im Regal meines Vaters) und dann nochmal im „Salt Water Blues von Lateef selbst. Die beiden Stücke von etwa sieben Minuten Dauer sind die längsten des Albums. An der Flöte gibt’s dann „From Within'“, in dem Lawson an der Celesta zu hören ist und Humphries auch zu Kesselpauken greift, sowie „Lateef Minor 7th“ und das besonders schöne „Adoration“, in dem das Zusammenspiel von Flöte und Cello sehr schöne Ergebnisse bringt – allesamt Originals aus des Leaders Feder. Ein tolles weiteres tolles Album, auch wenn man sich manchmal mehr Raum – für ausgewachsene Soli von Carter, Lawson und auch von Wright – freuen würde, die nur im Riff-Blues „Quarantine“ ausgiebiger zu hören sind. Die Arrangements sind allerdings gut, Carters Cello bringt eine interessante neue Farbe hinein, die für das Fehlen der little instruments Ersatz bietet.
Im August und September wirkte Lateef – neben Jimmy Heath und Charlie Rouse sowie Baritonsaxophonist Tate Houston – an den Aufnahmen zu Nat Adderleys „That’s Right!“ (Riverside) mit.
Das zweite und letzte Riverside-Album war eine noch besonderere Produktion als alles, was Lateef bis dahin gemacht hatte. Chris Albertson schreibt in den Liner Notes:
Chris Albertson
A new album by YUSEF LATEEF is invariably greeted with considerable interest and expectation, for his abundant creativity and his emphasis on unusual instruments and sounds have established an aura of excitement and surprise around his work. But this LP can be considered extra-surprising, even for a Lateef album, as Yusef’s fertile musical imagination continues to move into intrigingly [sic] new and different areas.On this occasion, Yusef has chosen to underline the big, virile sound of his own playing with the big, full sound of a nine-piece group – the first time he has recorded with more than a small combo. As you might suspect, the lineup is not exactly conventional, with Lateef himself being heard on four instruments and the other horns including an amazingly funky bassoon!
And the rich, compelling orchestral coloring created by this group stem from scores by a trio of writers that includes, in addition to Lateef himself, two fresh and striking talents, each – for quite dissimilar reasons – making a first appearance on the jazz scene. Kenny Barron is a most promising 17-year-old Philadelphian; his own hard-swinging Revelation and his sort ballad arrangement of Every Day I Fall in Love are the first recorded examples of his work. Charles Mills, who contributed the remarkable The Centaur and the Phoenix and the lyric Summer Song, is a highly regarded contemporary composer who was become attracted to jazz largely through a growing interest in the music of Lateef (to whom the title piece of this album is dedicated „with friendship and admiration“).
Das Nonett besteht neben dem Leader aus Clark Terry (flh, t), Richard Williams (t), Curtis Fuller (tb), Tate Houston (bari), Josea Taylor (bsn), Joe Zawinul (p), Ben Tucker (b) und Lex Humphries (d). Zawinul spielte damals noch bei Dinah Washington, aber bald schon traf er sich mit Lateef in der Band von Cannonball Adderley wieder.
In Barrons stotternd-swingendem Blues „Revelation“ spielt Lateef das Thema am Tenor und setzt dann auch zum ersten Solo an. Clark Terry, Tate Houston und Curtis Fuller sind die weiteren Solisten, die Bläser setzten auch während der Solo-Chorusse immer wieder ein, das Stücke ist sehr eingängig und bietet Lateef einen perfekten Rahmen.
In Lateefs „Apathy“, das dem Titel deutlich widerspricht, ist der Leader an der Flöte zu hören, Richard Williams und Clark Terry (am Flügelhorn) sind dann erst in eigenen Chorussen und danach in Fours zu hören. Nach einem weiteren tollen Tenorsolo Lateefs ist Hosea Taylor am Fagott zu hören – in der Tat funky! – und Ben Tucker spielt mit dem Ensemble ein paar Fours.
„Ev’ry Day I Fall in Love“ ist Barrons Arrangement des Kahal/Fain Songs. Es beginnt über einen Pedal Point mit langen Tönen der Bläser, aus denen sich dann die Oboe herausschält und das Thema präsentiert. Für einmal eine Ballade und kein erdiger Blues mit der Oboe … ein sehr, sehr schönes Stück! Das Gewebe der Stimmen ist fein ausgestaltet, immer wieder klingt ein anderes Instrument auf, scheint durch die getragenen Töne hindurch – oder sticht für einen Moment unten hinaus -, um sich organisch wieder zurück ins Ensemble zu fügen; eins der Instrumente ist die Flöte, zu der Lateef greift. Es folgt dann eine längere Passage, in der Lateefs Flöte nur von der Rhythmusgruppe begleitet wird. Ben Tucker war so oft ja nicht zu hören, aber er ist ein klasse Bassist. Humphries gefällt mir ganz gut, auch schon auf „Three Faces“. Zawinuls Piano ist leider etwas zu sehr in den Hintergrund gemischt. Zum Abschluss steigt das Ensemble wieder ein, Fuller kriegt nochmal ein paar Takte (und lässt seine Posaune wie schon im ersten Barron-Stück weich wie ein Euphonium klingen), dann auch Zawinul, bevor das Thema ausklingt mit Lateef zurück an der Oboe.
Die zweite Hälfte des Albums öffnet mit dem Titelstück, das Crazy Horse (dem Zentaur) und Bird (dem Phoenix) gewidmet ist. Es wirkt verspielt und zugleich zupackend, das Arrangement sprüht vor Einfällen, die Instrumente werden nicht primär wie im Jazz durchgehend eingesetzt, auch Bass und Piano setzen öfter aus, Richard Williams‘ bissige Trompete ist neben Lateefs Tenor die Hauptstimme im Thema, Zawinul legt Circus-Akkorde drunter, Humphries scheppert und swingt, die Trompeten schränzen, das Fagott watschelt und rennt plötzlich los … eine sehr polyphone Sache und ein sehr aussergewöhnliches Stück, das man wohl dem Third Stream zurechnen darf, wenn man will. Es wird zwar auch gerifft, aber immer wieder brechen plötzliche Einzeltöne herein. Dissonanzen schleichen sich ein, aber auch ein kleiner Moment, der nach Dixieland klingt. Tate Houston spielt ein kurzes Solo, Lateef verbeisst sich kurz in ein Riff, das wie eine Kreuzung aus Mills‘ Musik und „Salt Peanuts“ klingt und soliert dann unter dem dichten Arrangement hindurch. Klasse!
Es folgt – Kontrastprogramm – Lateefs Ballade „Iqbal“, seiner Tochter gewidmet. Zawinul öffnet am Klavier, Taylor setzt den Auftakt für die Bläser, ein Bass-Lick und ein feiner Beat von Humphries bereiten den Boden für die Oboe, die vom Barisax Houstons begleitet wird, während die Einwürfe des Blechs, die Klavierakkorde ein wenig an Gil Evans gemahnen. Nach einer weiteren Klaviertrio-Passage folgt ein Trompetensolo, ich bin hier echt unsicher, ob es sich um Williams oder Terry handelt, jedenfalls ein wundervolles, nachdenkliches Solo, das sich wie die folgenden Soli von Posaune und Fagott perfekt in die Stimmung des Stückes einfügen. Mit Lateefs Oboe klingt das Stück dann aus, die kurzen heftigen Einwürfe von Houston und die growls der Blechbläser lassen mich hier einen Moment an Mingus‘ „Black Saint“-Suite denken.
Mills‘ „Summer Song“ ist dann eine Pastorale, dargeboten an der Flöte vor mehrstimmigen Linien der Bläser und einer ruhig swingenden Rhythmusgruppe. Das Stück geht durch mehrere Passagen, es gibt wieder welche ohne Piano und – fast ohne – Bass (er spielt einen Pedal Point mit langen Pausen dazwischen). Typische Third Stream-Musik ist das auf gar keinen Fall – aber was ist das schon, wenn man genauer hinhört, findet man da auch weitere Perlen wie diese beiden Stücke, die Charles Mills für Lateef komponiert hat.
Den Ausklang macht Lateefs „The Philanthropist“, eine Klage auf dem Tenor mit an- und abschwellenden langen Tönen der anderen Bläser, die sie im Blech auch mal zu einem Growl steigern dürfen. Das Ensemble wird hier selbst zum Akteur, wenn Lateef längere Pausen macht – es geschieht zwar vergleichsweise wenig, aber genau das prägt die Atmosphäre dieses stimmigen Stückes, mit dem Lateefs gewiss besonderstes Album seiner frühen Jahre endet – wobei „früh“ so eine Sache ist, mit über 40 war Lateef ja längst ein alter Hase – das ist ja wohl mit ein Grund, warum seine Musik von Beginn an „fertig“ wirkt: der Mann war schon sehr lange im Geschäft, als er 1956 als Leader auf Platte in Erscheinung trat. „The Centaur and the Phoenix“ ist auf jeden Fall ein Höhepunkt.
Auf der CD findet sich ein äusserst seltsamer Bonus: zwei kurze Latin-Stücke mit Background-Gesang, produziert von John Ley in einer Session in den Bell Sound Studios in New York am 23. Juni 1961. Lateef spielt Flöte, Barry Harris, Ernie Farrow, Lex Humphries sowie die Percussionisten Roger Sanders und Garvin Masseaux und unbekannte Sängerinnen begleiten ihn. Das erste Stückc ist Esy Morales‘ „Jungle Fantasy“, in dem Lateef ein intensitves Solo aufbaut, in die Flöte singt, nachdem die loungigen Sängerinnen aussetzen. Das Stück ist auch im tollen Noir Criss Cross von 1949 zu hören (von Morales‘ eigener Combo):
Die zweite Nummer ist „Titoro“ von Billy Taylor, wieder nur zweieinhalb Minuten Flöte über einen treibenden Latin-Beat mit einem hart-swingenden Riff und einer Bridge über Walking Bass.
Ich nehme an, man wollte hier versuchen, mit dem Exotikbonus von Lateef einen kleinen Jukebox-Hit zu landen. Die Single trug die Nummer Riv 4504, später landeten die beiden Stücke auf der Milestone Doppel-LP „The Many Faces of Yusef Lateef“ (M47009), auf der sämtliche Riverside-Aufnahmen zu finden sind.
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