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Meine Zwischenbilanz:
„Hoje eu Quero Voltar Sozinho“ (Panorama) ****
Der 15-jährige, blinde Leonardo ist ein ganz normaler Teenager aus São Paulo, der am liebsten mit seiner besten Freundin Giovana abhängt. Aus der Betüdelung seiner Eltern will er ausbrechen und an einem Schüleraustausch in die USA teilnehmen. Doch dann kommt Gabriel neu an die Schule, weckt unbekannte Gefühle in Leo – und bringt damit die enge Beziehung zu Giovana in Gefahr… Manch einer mag vielleicht den „Tiefgang“ vermissen oder den zu hohen Feel-Good-Faktor dieses mit leichter Hand inszenierten Films anmahnen. Ich habe mich über unaufgeregtes und zugleich zutiefst sinnliches Erzählkino gefreut, das ganz nah an seinen Figuren bleibt. Eine sensibel beobachtete Coming-of-Age-Geschichte mit hervorragendem jungen Ensemble (die sich übrigens auch sehr gut im Generation-Programm gemacht hätte!).
„Güeros“ (Panorama) ****
Der aufmüpfige Teenager Tomás wird zu seinem Bruder Fede abgeschoben, der in Mexiko City studiert. Während Fedes Kommilitonen die Universität bestreiken, bestreiken er und sein Mitbewohner Santos den Streik. Zurückgezogen in die klaustrophobische Enge seiner erbärmlichen Studentenbude, droht Fede langsam den Verstand zu verlieren. Als Tomás in der Zeitung liest, dass das Idol der Brüder, der Musiker Epigmenio Cruz, der angeblich sogar Bob Dylan zum Weinen gebracht hat, im Krankenhaus liegt, beschließt das Trio, ihn besuchen zu fahren. Dylan-Kennern sollte die Story bekannt vorkommen – Tomás trägt gar ein T-Shirt mit der Aufschrift „Don’t Look Back“. Zitiert wird in diesem in zeitlosem Schwarz-Weiß gedrehten Film eine ganze Menge, durch das 4:3-Format nicht zuletzt die Nouvelle Vague. Regisseur Alonso Ruizpalacios hat „Güeros“ ausschließlich mit Freunden gedreht. Entstanden ist ein Buddy-Movie, eine Art „Oh Boy“ auf Mexikanisch und ein Roadtrip durch Mexiko City, der für Fede eine Reise zurück ins Leben wird. Sympathisch!
„Shemtkhveviti paemnebi“ (Forum) ***1/2
Sandro lässt alles über sich ergehen: den Redeschwall seiner Eltern, der inzwischen über 40-jährige Sohn möge sich doch langsam mal eine Frau suchen, genauso wie die Blind Dates, die sein Freund Iva für ihn arrangiert. So stoisch wie sein Protagonist agiert, arrangiert auch Regisseur Levan Koguashvili diese melancholische Komödie. Das Erzähltempo bleibt gedämpft, obwohl die Ereignisse an Fahrt gewinnen, nachdem Sandro sich in die Friseurin Manana verliebt und deren Mann frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen wird. Nur scheinbar beiläufig schenkt Koguashvili dem Zuschauer dabei kunstvoll komponierte Bilder des heutigen Georgiens. Leider entfernt sich der Plot im Mittelteil etwas von seinem Hauptdarsteller, dessen Statistenrolle ein wenig überstrapaziert wird. Dennoch insgesamt eine sehenswerte Angelegenheit: lakonisch, poetisch, humorvoll.
„Kumiko, the Treasure Hunter (Forum) ***1/2
„God Help The Girl“ (Generation) ***
„Mavi Dalga“ (Generation) **1/2
Vier Freundinnen in einer türkischen Kleinstadt in ihrem letzten Schuljahr vor der Uni: Sie teilen ihre (Liebes-)Nöte, Elternkonflikte und Zukunftsängste. Typische, universelle Erfahrungen des Erwachsenwerdens werden hier also verhandelt. Beispielhaft präsentiert an der aus der Gruppe etwas herausgehobenen Deniz, die in ihren Lehrer verknallt ist und sich – reichlich milde – mit ihrer Mutter zofft. Insgesamt passiert nicht viel in „Mavi Dalga“. Der Film setzt voll auf die Ende-der-Jugend-Stimmungen und das natürliche Spiel seines Ensembles. Ein stärkerer Fokus auf seine Geschichte hätte ihm gut getan. Dafür ist der Soundtrack durchaus ansteckend.
„Free Range – Ballaad maailma heakskiitmisest“ (Forum) *1/2
Brechts „Ballade von der Billigung der Welt“ fungiert als Untertitel, die Hauptfigur Fred ist ein Baal-Charakter: junger Dichter, der sich als an der bürgerlichen Gesellschaft leidendes Genie versteht, dessen Freiheitsdrang nicht befriedigt werden kann, weil die Menschen alle so schreckliche, korrumpierte Lügner sind. Hat natürlich einen düsteren Roman über seine Weltsicht geschrieben, der jedoch vom missverstandenen Künstler ebenso selbstverständlich unveröffentlicht bleibt bzw. vernichtet wird. Seine öden Jobs schmeißt er, seine doofe Freundin schwängert er (das Kind will er natürlich nicht und auch ansonsten wird sie von ihm schlecht behandelt – wobei die auch echt nervt). Am liebsten säuft, singt, völlert und vögelt Fred bis zum Erbrechen (wörtlich zu nehmen). Das Ganze ist als Reigen von Anziehung (schöne Naturaufnahmen, Schnulz-Soundtrack von Vinyl mit Cat Stevens, Neil Diamond usw.) und Abstoßung (Langeweile, (Selbst-)Verletzungen) angelegt. Doch die Story ist einfach zu ausgelutscht. Die Freiheitssuche des Helden geht zudem die ganze Zeit auf Kosten der Anderen, auch ihm wohlgesinnten, was den Film zu einer recht pubertären, ärgerlichen Angelegenheit macht. Eigentlich schon am Rande der Lächerlichkeit, sollte der Regisseur das ernst gemeint haben. Der ist dann passenderweise zum Q&A hinterher nicht erschienen. Wie rebellisch!
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