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INFINITE CHANTS (1990)
„nowhere in the history of black experience in the united states was the clash of cultures – the african versus the european – more obvious than in the differing attitudes toward ritual dancing and spirit posession.” (eileen southern)
das scheint mir schlüssig und auch ich weiß – ohne jegliche erfahrungen diesbezüglich – nicht, wie man formen des ekstatischen singens adäquat beschreiben könnte.
ginge es nur darum, das material zu verzeichnen, mit dem auf INFINITE CHANTS gearbeitet wird, braucht es nicht viel aufwand. es sind homophone hindu-gesänge zu hören, die z.t. mit einem vorsänger in einem call-and-response-modus interagieren (panduranga wird er laut credits genannt). dadurch wird man, wie auf den aufnahmen zuvor, an afroamerikanische spirituelle gesänge erinnert. akzentuiert werden diese durch einfach percussion: handklatschen, tabla, schellen. alice coltranes synthesizer- und (seltener) orgelakkorde sind das dritte element dieser musik. manchmal verstärken sie die gesangslinien, manchmal federn sie funky dazwischen, oft ergänzen sie die musik durch spacige glissandi, die sich landend und wieder abhebend auf die gesänge setzen. das allerdings ist der einzige, quasi hintergund-beitrag coltranes zu diesen aufnahmen. weder ist ihr eigener gesang zu hören, noch instrumentelle improvisationen. in den credits wird sie als arrangeurin genannt, was sich auch auf die postproduktion beziehen dürfte, denn die einzelnen stücke sind eigentlich medleys, collagen aus einzelaufnahmen, in unterschiedlichen tempi und tonlagen. dadurch wird zwar eintönigkeit vermieden, aber auch die mantra-artige struktur aufgehoben: es geht schon um ein dokument dieser musik an sich, nicht nur um ihren gebrauchswert.
in den späten 1980ern hatte alice coltrane ein spitiuelles erlebnis, bei dem der indische guru sathya sai baba ihr erschien. es folgte eine neuausrichtung des vedantic centers in dessen namen, 1994 schließlich die umbenennung in „sai anantam ashram“. mehrfach reiste alice mit ihren jüngern zu sai baba nach indien, auch nach ihrem tod (die webseite des ashrams berichtet von einer reise 2011, im todesjahr sai babas) hielt man an diesem ritual fest.
sai baba war eine sehr einflussreiche, aber auch äußerst umstrittene figur. von dem sohn einfacher bauern wurden diverse legenden um seine wundertätigkeiten und fähigkeiten, gegenstände zu materialisieren, kolportiert, die sich später als tricks herausstellten. obwohl er selbst nur einmal indien verließ und zeitlebens in seinem hauptashram nahe seinem heimatdorf puttaparthi wirkte (das später allerdings einen eigenen flughafen besaß, um die besuchermengen zu bewältigen), hat er mehrere tausend anhänger in der ganzen welt und diverse hilfs- und bildungseinrichtungen innerhalb und außerhalb indiens errichtet. als er starb, wurde er in einem staatsbegräbnis beigesetzt und vier tage lang staatstrauer verordnet. seit den 1970ern gab es allerdings auch vorwürfe des sexuellen missbrauchs an jungen männern, die sich bis heute halten.
alices sai-baba-ashram unterscheidet sich von anderen einrichtungen in seinem namen vor allem darin, dass sie selbst die spirituelle leiterin war, das allerdings, ohne daraus einen kult zu machen. ihre biografin franya berkman berichtete von höchstens 50 regelmäßigen besuchern ihrer gottesdienste, zumeist gebildeten afroamerikanern aus der mittelschicht, nicht wenige von ihnen professionelle musiker. seit alices tod dürfte die zahl der besucher weiter zurückgegangen sein – auf der webseite des ashrams ist seit 2012 kein eintrag mehr zu finden.
GLORIOUS CHANTS (1995)
diese letzte ashram-aufnahme ist nicht viel anders als die vorige. die gesänge der gläubigen werden in den synthesizerwolken gleichermaßen begleitet und entrückt, diesmal kommt noch eine unaufdringliche flöte (joshua) dazu und ein paar indischer sänger (sandhya sanjana, sairam iyer) übernehmen das vorsingen, das dadurch weniger an gospel erinnert. wieder sind in der postproduktion einzelne snippets zusammengesetzt, entsteht ein flow aus 6 5- bis 12-minütigen collagen.
der gesamteindruck ist nicht übermäßig fremd, die melodien sind einfach, klar und catchy, die arrangements wie üblich gar nicht unjazzig (oft synkopiert, von der percussion strukturiert), die afroamerikanische färbung der gesänge ist unüberhörbar. die produktion wirkt glatt, fast poppig, man kann das hervorragend einfach nebenher laufen lassen (und immer wieder, feinheiten entdeckend, genauer hinhören).
warum kaum ein mit hinduismus, zumindest mit yoga vertrauter mensch diese musik kennt, obwohl es massenhaft auch im westen verbreitete „kirtan“- und „bhajan“-cds und unter den urhebern regelrechte stars gibt, erklärt freya berkman (die allerdings auf alice coltrane in ihrem yogastudio aufmerksam wurde) mit dem unzureichenden vertriebssystem von alices „avatar institute“, ihrer selbstgenügsamkeit (kommerziell war sie ohnehin durch die jowcol-rechte abgesichert) und der spezifisch afroamerikanischen ausprägung dieser aufnahmen. die alben bei warner, die z.t. schon ihre spirituelle musik enthielten, waren zudem jahrelang nicht verfügbar.
wer sich hier trotz meiner unzureichenden beschreibungen für diese musik interessiert, kann die cds natürlich auf der seite des sai anantam ashrams bestellen oder sich im netz umschauen.
ein wirklich toller, dramaturgisch kluger und sehr musikalischer mix durch alle vier veröffentlichungen ist dem dj und musikkurator frosty gelungen, der auf seiner dublab-seite zum freien download zur verfügung gestellt wird.
ein weiterer beschreibungsversuch findet sich außerdem hier auf der cahokian-seite.
und hier findet man auch alles nötige.
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