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TURIYA SINGS (1982)
1976 hatte alice coltrane ein spirituelles erlebnis, nach dem sie beschloss, zolibatär zu leben, nur noch orangefarbene gewänder zu tragen, eine swamini (also ein weiblicher spiritueller lehrer in der hindu-tradition) zu werden und sich „turiyasangitananda“ zu nennen: die sanskrit-übersetzung von „the transcendental lord’s highest song of bliss“.
1982 starb john jr. coltrane, der älteste gemeinsame sohn von john und alice, mit 18 jahren bei einem autounfall.
TURIYA SINGS ist ein soloalbum, mit wenigen streicher-overdubs, entstanden in einer 15-stündigen marathon-session. alice singt hindu-mantras und begleitet sich selbst auf der orgel und einem synthesizer. die musik, die hierbei entsteht, ist einfach, klar, verletzlich und von großer traurigkeit. ich bin mir nicht ganz sicher, ob das ein intensives meditatives zwiegespräch mit gott ist oder eine reaktion auf einen nicht zu verarbeitenden schicksalsschlag – oder beides. ravi coltrane hat erzählt, wie sehr der tod seines älteren bruders die familie, nicht zuletzt ihn selbst getroffen hat (er hörte ein jahr auf zu spielen, hörte nur noch die platten seines vaters, um anschließend erstmals konsequent zu beschließen, saxophonist zu werden). von alice sind keine aussagen über die private tragödie bekannt.
man kann nicht umhin, sich eine frau allein in einem studio vorzustellen, einsam, trauernd, wege der verarbeitung suchend. der gesang hat nichts entrücktes, aber etwas sehr limitiertes – fast abgehackt, rhythmisch prägnant, aber ohne vibrato oder andere möglichkeiten des tonhaltens, kommen die sanskrit-silben, von einem synthesizer-teppich umspült; kleine, durchaus einprägsame melodien, endlose wiederholungen; einige merkwürdigkeiten wie eine sirenenhafte tonansteuerung über große intervalle auf dem synthesizer, verschluckte hallgesänge, das rauschen der cassetenaufnahme.
ja, cassette. 2 mal 30 minuten. das ist das medium der nächsten veröffentlichungen, das label das hauseigene „avatar book institute“, keine kommerzielle verbreitung, quasi für den haus-, den ashramgebrauch. im netz ist das mittlerweile alles zu finden, in mehr oder weniger guten abtastungen und digitalisierungen. doch auch, wenn man die nächsten drei aufnahmen kennt, bleibt TURIYA SINGS doch das rätselhafteste dokument der entwicklung von alice coltrane, eine fast schmerzhaft limitierte musikalische äußerung, für sich allein in die welt gebracht, ein „lost tape“. in kleinen dosen eingesetzt trotzdem voller schöner kleiner rätsel.
DIVINE SONGS (1987)
fünf jahre später sieht das mit der ashram-gebrauchsmusik schon etwas anders aus. orchestraler, in großzügigen synthesizerflächen eingebettet, vom chorgesang getragen, in auf- und abschwellenden sirenenklängen angegangen, sind die gesänge von turiyasangitananda zu hören, und die grundstimmung ist ungleich gelöster und auch von größerem wagnis. Im entrückten „er ra“ ist sogar die harfe wieder zu hören – zum letzten mal? „madhura manohara giridhari“ funktioniert auf den changes von „sometimews I feel like a motherless child”, herzzerreißend singen sich die männer und frauen des ashrams das um die ohren. „deva deva“, der opener der zweiten cassetten-seite, ist auf einem kratzigen synthie-drone aufgebaut, zu dem alice fast aufreizend skandiert, bevor sie die streicher wieder einlullen. gott der allmächtige triumphiert über die zuckungen des leibes. mein lieblingsstück „chandra shekara“ kann kaum abstreifen, dass es wie eine triumphale gospelselbstermächtigungshyme daher kommt. tatsächlich funktioniert das wie ein song, er ist vollgepackt mir emotionen, wechselt dramatisch die register, erzählt eine geschichte. aber welche?
„rama guru“ schließlich setzt das set in bewegung, der chor wirft sich ins mantra, alices synthie-sirenen feuern sich in kommentierenden auf- und abwärtsbewegungen ab oder setzen sich funky in die lücken des gesangs. krishna guru, rama guru. sowas kann einen schon durch den tag federn. den trance-remix dazu müsste es eigentlich schon längst geben.
auch im letzten stück triumphiert der chor, die stimme von turiya ist in ihrer individualität verloren gegangen. bin gespannt, wie sich das in den nächsten 2 aufnahmen entwickelt.
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