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WORLD GALAXY (1972)
„love for love’s sake is divine“ lässt sich swami satchidananda in den liner notes zitieren – das ist aus einem „gedicht“ von ihm, das er selbst in alice coltranes version von A LOVE SUPREME rezitiert. das große kosmische unbekannte und die liebe als göttliche energie sind die themen der WORLD GALAXY suite, die noch etwas größer denkt als UNIVERSAL CONSCIOUSNESS und doch ausgesprochen auf john coltrane bezogen bleibt. ausgerechnet MY FAVORITE THINGS eröffnet, im dreckig und roh quäkendem wurlitzer sound, der aber schnell von einem streicherteppich überdeckt wird. 15 violinen sind es diesmal, flächendeckend, dicht, nur noch wenige lücken lassend – für ein kleines orgelsolo hier, ein paar völlig aus dem rahmen schießende saxlinien des jungen und hier erstmals diskografisch dokumentierten frank lowe dort. ben riley hält etwas hilflos einen midtempo-swing aufrecht. wenn die wurlitzer nicht sofort in clusterartige dissonanzen ausfranst, gibt es noch paul-buckmaster-gemäße elektronik-attacken, die sich so anhören, als würden die aufgenommenen streicher schnell vor- oder zurückgespult.
der mittelteil besteht aus drei galaxie-variationen – GALAXY AROUND OLUDUMARE, wo sich die 15 violinen auf ein soundtrackhaftes thema einigen, dazwischen klavier und vereinzelte schreie von frank lowe, kesselpaukenüberleitung zum außerirdisch schönen GALAXY IN TURIYA, einem schwebenden unisonoexzess, von ben riley flirrend mit besen auf dem ride bewegt, einer harfe, die harmonisch zuwiderläuft, als gleiteten zwei wolken ineinander – und der bassgrundierung, die allein reggie workman mit einem durchgestrichenen grundtton aufrecht hält. dazwischen wird ein jazzmoment ausgelöst, der nochmal in neue dimension aufsteigt, workman soliert, die harfe geht in die bassfrequenz, frank lowe spielt ein traumhaft schönes vier-ton-motiv als solo auf dem sopransax, riley rumpelt auf den toms los. wenn die streicher danach wieder einsteigen, fühlt man sich, als würde in ein boot zurück steigen, das man nur für einen augenblick verlassen hat, um sich etwas an land genauer anzusehen. am ende spielen plötzlich alle violinen wild drauflos, und die unverhoffte kakophonie ordnet sich in einem großflächigen akkord, in dem eine tamboura den grundton festlegt. einstieg in die GALAXY IN SATCHIDANANDA. die harfe gibt ein thema vor, dass die streicher aufgreifen, wieder wähnt man sich in einem film. die schärfe und flächigkeit des arrangements erinnert von ferne an die gleichalte HISTOIRE DE MELODY NELSON bzw. an die streicherscores von jean-claude vannier. von völlig woanders her kommt ein fire-solo von alice auf der wurlitzer, was die harmonie exentiell kippen lässt, obwohl sie auf die tamboura bezogen bleibt. unterstützt wird die orgel durch ein gleichermaßen aggressives kurzsolo von lowe auf dem sopran, dem aber schnell die luft ausgeht. streicher und harfe bleiben siegreich, gleichzeitg sind die wogen in sich instabil, die triller und unreinen töne gehen aus dem europäisch-klassischen kontext raus, das thema sowieso.
zum schluss der auftritt des gurus und seines liebesgedichts, das john coltranes LOVE SUPREME weiterschreibt und um fernöstliche bedeutungsebenen erweitert. das vier-ton-bass-motiv ist geschickt in ein streicherthema umgewandelt, ben riley schlägt (1972!) einen lupenreinen hiphop-beat, die wurlitzer beißt sich hip am thema fest, der fette, grunzende orgelbass übernimmt den rest. riley und coltrane zelebrieren das im duo, der ganze orchestrale apparat hat pause, die orgel verschiebt das thema. lowe krächzt mal kurz dazwischen, dann kommt plötzlich ein violinensolo von leroy jenkins, das sich nach anfänglicher orientierungslosigkeit toll mit den orgelkaskaden vermischt. die dominante klangfarbe des albums erobert sich aber am ende doch ihren raum zurück: unisono-streicher-thema, umspielende harfe, grundton vom bass, ein letztes solo der orgel. swami haucht dreimal „om shanti“ und die WORLD GALAXY löst sich in atmosphäre auf.
LORD OF LORDS (1972)
es geht alles noch größer. ein halbes jahr nach WORLD GALAXY nimmt alice in los angeles LORD OF LORDS auf, ein 5-teiliges werk für großes orchester und improvisierendes trio (alice, charlie haden & ben riley). wobei – improvisierend ist nur noch die leaderin zu hören, kurz, kakophonisch, in wilden free-ausbrüchen. tief in den raum gestaffelte unisono-flächen sind zu hören, hinter denen ein klarer plan steht, dessen ergebnis aber mitunter verstörend ist. für mantras und sonstige ritualbezüge ist das alles zu dramatisch, für jazz zu statisch, für klassik zu flächig. sie habe besuch von igor strawinsky bekommen, schreibt alice. er habe ihr ein kleines fläschchen überreicht mit einer flüssigkeit, die sie auf kommando getrunken habe. eigentlich sei das für ihre großmutter gewesen, soll strawinsky ihr gesagt haben. und den rätselhaften satz: „i want you to receive my vote!“ wirklich far out, das ganze. jedenfalls hat alice zwei passagen aus dem feuervogel für das album transkribiert, mit der orgel als hauptinstrument. und einigen wilden free-ausbrüchen dazwischen. ganz am ende noch eine komplexe dvorak-anleihe, das „largo“ aus der new world symphony, das aber auf der grundlage von spirituals entstanden war und später als „going home“ wieder zum beliebten gospel wurde. alice ornumentiert darum herum, bewahrt aber mit den streichern den dvorakbezug, nicht die gospelreferenz.
und die orgel, seltsam verstärkt und verzerrt, klingt sehr merkwürdig hier. wie eine plastiktröte unter holzbläsern. wie ein score für einen psychedelischen science-fiction-film. ende der 60er bis mitte der 70er sei halt eine sehr offene zeit gewesen, erzählt alices produzent ed michel – die leute hätten alles mögliche im radio hören können. ein paar substanzen haben zu dieser entspanntheit und neugier sicherlich beigetragen. nur ist LORD OF LORDS, in völlig unangestrengtheit, kein spiel, kein pop und kein experiment – es liefert so scheint es, sehr genau, was es beabsichtigte. und war laut michel sogar erfolgreich.
danach brach alice coltrane ihre zelte auf long island ab und zog mit ihrer familie an die westküste. in der neugeordneten labellandschaft wurde sie von warner übernommen, ihr produzent ed michel folgte ihr. ebenso einige sinnsucher – ein erstes gebetszentrum entsteht. bald erfolgt ein weiterer umzug, nach woodland hills, nahe los angeles. alice coltrane geht ins zölibat und wird guru.
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