Re: Alice Coltrane (1937-2007)

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vorgarten

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JOUNEY IN SATCHIDANANDA (1970)

das wurde aber auch zeit: frau coltrane geht nach indien! lange genug hatte ihr guru, swami satchidananda, auf sie eingeredet. also fahren sie zusammen, mit einigen anderen „studenten“, besuchen new delhi, reshikesh, madras und fahren über land durch sri lanka. vorher allerdings nimmt sie noch ein album auf, voller vorfreude und voller ideen darüber, was sie dort wohl erleben wird.

das reise-album JOURNEY IN SATCHIDANANDA, das auch ein stück mit dem titel STOPOVER BOMBAY enthält, lässt sich schon im vorfeld sehr weit auf das spirituelle erlebnis ein, das alice coltrane im dezember 1970 erwarten wird. schon jetzt hat sie sich mit der tambouraspielerin tulsi eine fernöstliche klangfarbe ins studio geholt und macht erstmals ernst mit einer konzentrierten drone-musik. vier stücke entstehen am 8. november 1970, tamboura-bedingt auf einem einzigen grundton aufgebaut, mit dem tollen, hochvirtuosen cecil mc bee am bass, der entweder stur ein riff durchspielt oder kamikazehaft in soli und absurde umspielungen ausbricht. coltrane selbst hält sich sehr zurück, ihr harfenspiel ist nochmal anders geworden, repetitiver, weniger solistisch, manchmal pausiert sie auch einfach. so entsteht das tolle titelstück, auf dem pharoah sanders, wie auf dem gesamten album, helle, leicht brüchige, selten ausbrechende sopransax-linien anlegt, die ihn eigentlich schon in einer post-free-phase zeigen. rashied ali bringt als einziger bewegung in dieses komplex texturierte tongeflecht hinein, das hier entschieden spirituelle mood music sein will, pop (wenn man so will), psychedelische glückswolke.

sehr schön dann auf seite zwei, wie alice coltrane das indien-thema mit einer referenz an den verstorbenen mann verbindet: natürlich mit einer variation über INDIA, die sie SOMETHING ABOUT JOHN COLTRANE nennt (it „is set on a d-minor mode, and will not be unfamiliar to john’s followers“). sehr zurückhaltend wechselt sie dafür mccoy-tyner-haft ans klavier und lässt ein paar modale akkordstrukturen wandern, während sanders hier den coltrane geben darf. das instrument, das auf john coltranes village-vanguard-aufnahmen angeblich von ahmed abdul-malik gespielt und immer fälschlicherweise als „oud“ angegeben wird, war ja höchstwahrscheinlich auch eine tamboura (ist das eigentlich mittlerweile geklärt?). ein schöner blick zurück vor dem abflug. wahrscheinlich wollte john auch immer mal nach indien.

die große überraschung ist aber das allerletzte stück, das knapp ein halbes jahr zuvor aufgenommen wurde, live im village gate. hier ist tatsächlich eine oud statt einer tamboura zu hören und charlie haden, der langjährige freund von alice coltrane, ist erstmals am bass. im völlig offenen harmonischen feld entsteht zunächst eine klangwolke aus lauter faszinierenden und zurückhaltend geformten sounds der musiker, in denen sanders (wieder am sopran) auf einzelne drones der oud eingeht, alice sanfte harfenakzente hinzufügt, haden kaum hörbar grundiert und ali mitschrummelt. gerade, als sich sanders zu einem gänsehautmoment gehauchter emotionalität emporgeschwungen hat, fängt rashied ali aus dem absoluten nichts heraus mit einem sophisticated rumpelbeat an, in den die oud (von vishnu wood gespielt) ein kleines, hippes motiv einstreut. keine ahnung, ob das alles wirklich jemand komponiert hat, aber es folgt eine faszinierende zweite hälfte, angetrieben vom wieder gleichzeitig verschleppten und beschleunigten beat alis, der im konsequenten nicht-gradlinig-spielen das stück mit großem reiz auflädt. ein besonderer live-moment, so hört sich das an. fällt deswegen auch etwas raus aus dieser spirituellen reisevorbereitungsmusik. guten flug, frau coltrane!


UNIVERSAL CONSCIOUSNESS (1971)

in indien passiert natürlich das erwartete. alice coltrane kommt erleuchtet zurück, hat einen neuen namen (turiya aparna) und ihre nächsten liner notes erzählen mythen nach, bringen locker krishna, allah, maria & joseph, isis & osiris in einen geheimnisvollen zusammenhang und sind um ein foto herumgruppiert, das eine gewandete alice mit ihrem im yogasitz auf einer säule hockenden guru swami satchidananda am ufer des ganges zeigt. ich bin nicht in der lage, diese texte tatsächlich einzuordnen, aber irgendwie scheinen sie jetzt nicht von esoterischen imitierungen durchsetzt oder mit hinduistischen formeln verknotet, sondern auf eigenartige weise originell in ihren verknüpfungen von irdischem und geistigem, von universellen ideen und der erwähnung, dass die jüngere schwester jetzt bei einer großen plattenfirma arbeitet, gebeten und dank an ihre musiker.

„transonic power“ jedenfalls habe gott ihr gegeben, schreibt turiya aparna. aber um diese kraft des durchwanderns von klängen im tonstudio festzuhalten, lässt sie sich noch ein paar monate zeit. im april, mai und juni 1971 gibt es drei sessions im coltrane-haus. zwei sachen sind neu: wir hören zum ersten mal streicher und die wurlitzer orgone, eine orgel mit zwei tastaturen und bass-pedalen. alice coltranes sound darauf ist ungewöhnlich und mittlerweile kann man wohl von einem trademark-sound sprechen. trocken, etwas gequetscht, null legato, dafür mit einigen hall-effekten, bei denen ich aber nicht weiß, ob sie ein ergebnis der postproduktion sind. die streicher (in alices arrangement, von ornette coleman transkribiert) wiederum sind auch sehr besonders – vier violinen, gespielt von musikern aus dem klassikbereich, darunter aber auch leroy jenkins. das klingt scharf, schrill, aber durch die hallige aufnahme wie ein großes orchester, dem man den bass abgedreht hat. dazwischen streicht jimmy garrison ein paar drones, einmal aber soliert er auch im kollektiv mit alice. bewegung findet im drum-bereich statt, zum einen durch den jungen jack de johnette (für den ich ja einen besonderen crush habe, weil er am anfang so funky, schnell und beweglich war, egal ob bei miles, bei bill evans oder hier); zum anderen durch den viel pattern-affineren, polyrhythmischen clifford jarvis.

das titelstück ist ein schräger und recht gewalttätiger call & response heuler, in dem kürzelmotive der streicher (‚unrein‘ und geräuschhaft gespielt) von alices orgel aufgefangen werden. im mittelteil des albums gibt es dagegen lange, statische, z.t. original indische hymnen, in denen die streicher unisono und klangsauber eine ziemlich quecksilbrige, unwirkliche schönheit verbreiten. aber auch da immer wieder mit atempausen, lücken, die von den anderen musikern gefüllt werden. die postproduktion bringt hier einiges zusammen, setzt aber auch artifiziellen hall ein, der z.t. durch die kanäle wandert. auch overdubbs kommen vor, vor allem, um die harfe ins spiel zu bringen, während alice noch an der orgel zu hören ist. wenn das jetzt nach harmonieseligem brei klingt, liegt man völlig daneben. die meisten sounds sind spitz und aggressiv, das material wird in harten schnitten gegeneinandergesetzt. trotzdem ergibt sich auf einer höheren ebene eine harmonie, der man sich – trotz all ihrer geheimnisfülle – ziemlich schnell ergibt.

für scharfe kontraste sorgen die beiden duos mit rashied ali, die im juni aufgenommen wurden. BATTLE AT ARMAGEDDON und THE ANKH OF AMEN-RA sind ziemlich krawallige improvisationen, die wieder die linie der harmonisch niemals aufgelösten blues-studien verfolgen, die auf PTAH so prominent waren. sehr schön ist außerdem die rahmung des letzten stückes durch zwei harfen-teile, die auch zeigen, dass alice coltranes harfenspiel mittlerweile sehr an facetten gewonnen hat (schimmernde flächen, klare punktierungen, metallisches durchstreichen und mit haut gepielte basslinien, in denen häufig etwas mitschnarrt). insgesamt bin ich ein großer fan vor allem ihres orgelspiels, das eine entschiedene hipness hat, obwohl es ein irgendwie defizitär flacher sound ist. später wird sie auch noch anfangen, die einzelnen töne zu dehnen und mikrotonal zu erweitern, aber hier sind es eher schräge akzente in den streicherwolken und schweißtreibend wiederholte patterns, die im fluss des spiels von rashied ali ums nicht-untergehen kämpfen.

UNIVERSAL CONSCOUSNESS ist eine große bewegung durch sehr unterschiedliche klangpaletten, wirkt aber wie aus einem guss. transonic power. meine erste erfahrung mit alice coltrane außerhalb der bands ihres mannes und immer noch eins meiner liebsten alben.

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