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Das Faszinierende ist, finde ich, mit welcher Überzeugungskraft Roberts verschiedene Stilebenen ineinanderblendet, kollektive Traditionsstränge in einem individuellen Erfahrungsraum zusammenführt: europäische Klassik, die Opernsänger-Einschüsse … die ganze Geschichte des Jazz von New Orleans bis Free … Folksong-Motivik, Gospel, Blues-Anklänge … sie verfügt über diesen Reichtum wie — Mingus?! Und dieselbe Methode kommt auch auf der „erzählerischen“ Ebene zum Einsatz: Politik, Religion, Alltagsgeschichte, individuelle Erfahrung, kollektive Erfahrung – all das nicht in einem sauberen Hintereinander brav sortiert, befriedet, genormt, eingehegt, sondern assoziativ verschachtelt, als Bewusstseinsstrom, einander gegenseitig beleuchtend.
Im Internet habe ich gelesen, dass Matana Roberts Oral History als Materialbasis nutzt: Sie habe ihre Großmutter interviewt und Zitate daraus zu einer spoken-word-Performance verdichtet: „No honey, it didn’t affect me… didn’t see it on TV… I never even saw any white people… those white folk weren’t bothering us.“ Die rassistische Segregation griff im Alltag offenbar so tief durch, dass die getrennten Welten einander nichtmal begegneten. Und dagegen schneidet Roberts dann ein Zitat der Bürgerrechtsaktivistin Fannie Lou Hamer, die sich 1962 in das Wählerverzeichnis einzutragen (und damit die bei der Großmutter unreflektiert gebliebene Erfahrung des Ausgeschlossenseins bewusst aufzubrechen) versuchte und dafür misshandelt und eingesperrt wurde. Und an diese Passage schließt sich dann „His eye is on the sparrow“ an … spannend, nicht? (Und keine Sorge, ich hab das nicht selber gewusst, sondern im Internet zusammengesucht.). Jedenfalls finde ich, das ist eine aufregende Methode der Geschichts(re)konstruktion und der Erinnerungsarbeit.
Das Individuelle und das Kollektive schlagen da immer wieder verblüffend Funken aneinander: Ich habe zum Beispiel gelesen, Roberts habe deshalb einen klassischen Tenor hinzugezogen, weil sie als Kind von ihren Eltern immer mit in die Oper genommen wurde – was wir also zunächst als fremd und unzugehörig empfinden im Kontext all der afroamerikanischen Musiktradition, die da erklingt, wird plötzlich zur individuellen Reflexion eines musikalischen Kindheitseinflusses, der genauso prägend war wie der Gang in die Gospel Church. Und gleichzeitig hat das natürlich auch etwas von Selbstermächtigung, von programmatischer Aufwertung der afroamerikanischen Musiktradition, wenn die europäische Klassik da einfach mal eben als ein Mosaikstein unter vielen eingebaut wird ins persönliche Erfahrungskontinuum.
Ich finde das ganze Coin-Coin-Projekt bisher deshalb so umwerfend, weil es auf zwei ganz verschiedenen Ebenen funktioniert: Man kann einfach hören, hören, hören, die Klangbilder spüren, sich von den Rhythmen und Melodien tragen lassen, ganz intuitiv darauf einsteigen, das ist eine so sinnliche, unmittelbare Musik – und gleichzeitig wirkt da ein hochreflektiertes Verfahren, das ist intellektuell anregend, zur Spurensuche einladend, den Denkapparat belebend. Egal, ob ich mich ganz naiv hörend darauf einlasse oder mich voll in die lustvolle Arbeit des Verstehens, des gedanklichen Nachvollziehens werfe – es lohnt sich ohne Ende.
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