Re: Bob Dylan – Bootleg Series Vol 10: Another Self Portrait (1969-1971)

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otis
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bullschuetz
Was die Wirkung von NM bei Erscheinen betrifft, kann ich mit authentischer Erfahrung mangels Alter nicht dienen. Soweit ich gelesen habe, wurde es aber damals überhaupt nicht als verstörend gewertet, sondern als Rückkehr zur Form gewürdigt und löste in Rezensionen so eine Art „Gottseidank, Dylan ist wieder Dylan“-Stoßseufzer aus. Hast Du da irgendwelche näheren Erinnerungen, ob das „durchschnittliche Dylan-Publikum“ in Deinem Umfeld NM ungewöhnlich oder gar verstörend fand?

Im Grunde fände ich das ja durchaus einleuchtend: Jazz-Gescatte, ein Winterwalzer, das vorweihnachtliche Raunen auf „Three Angels“, dazu ein ausgewachsenes Gebet am Ende, wie’s Franz von Assisi nicht besser rausknattern hätte können … wenn man’s näher bedenkt, findet sich da wahrlich allerhand an Abenteuerlichem (und im übrigen durchaus auch an Passagen, die man womöglich süßlich hätte nennen können).
Und so drängt sich mir die historische Frage auf: Warum eigentlich wurde NM seinerzeit als Gegenentwurf und Korrektur von Self Portrait empfunden und nicht als weitere Provokation/Irritation?

Ich war damals bei Erscheinen noch zu jung und unbelesen, als dass ich Konkretes beisteuern könnte. Gleasons Satz trifft irgendwie das, was ich in den anschließenden Jahren auch so wahrgenommen habe. Aber es steckte in meiner Wahrnehmung nicht viel mehr dahinter als „nun können wir ihn wieder ernst nehmen“. Wahre Liebe zu der Platte habe ich bei den wenigsten wahrgenommen, mich eingeschlossen damals. Und ich hatte mit relativ vielen Dylanfans zu tun. Die Liebe kam erst etwas später.

New Morning nahm man ernst (im Gegensatz zum Self Portrait mit den Horses und Wigwam etc.), da es mit ernst zu nehmenden musikalischen Mitteln arbeitete. If Not For You, war da schon ein „süßlicher“ Ausrutscher, zumal Olivia Newton-John sehr bald ein Welthit damit hatte. Der Rest war richtige Musik, jazzig angehaucht, gar etwas avangardistisch, das konnte, durfte nicht schlecht sein. Selbst Winterlude, ein Gassenhauer auf Anhieb, hatte etwas Distanziertes und Zurückhaltendes, erst recht im direkten Kontext mit den Dogs. (Was ich als besonders fremdartig empfand, obwohl durchaus Jazz-geschult und Freejazz gewohnt.) Und die Three Angels waren irgendwie vom anderen Stern.
So meine Wahrnehmung damals und die vieler Bekannter. Liebe also war da nicht, aber Akzeptanz. New Morning klang als Ganzes in manchen Ohren einfach etwas „schräg“.
Mir bereitet heute die Vorstellung ein ziemliches Vergnügen, wie man im Studio von einer sehr songhaften, „harmlosen“ Demoversion z.B. der Dogs zu der endgültigen gefunden haben mag, Das muss Spaß an der eigenen Kreativität und Musikalität, aber auch Spaß an einer Destruktion klassischen Arrangements gewesen sein. Und das höre ich auch bei manchen anderen Titeln, so den von dir genannten Tracks von New Morning. Jetzt hat man die Songs in einem früheren Gewand auf dem Plattenteller und man erkennt, wie viel Arbeit, aber auch wie viel Abkehr von Herkömmlichem in New Morning steckt. Insofern also mein Statement oben, dass ich heute New Morning als Kehrseite der Medaille des Self Portrait hören kann. Die neuen Self Portrait-Outtakes belegen das Ganze spiegelbildlich.

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