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Pet Shop Boys – Being Boring
[Single, 1990]
As far back as 1915 the unchaperoned young people of the smaller cities had discovered the mobile privacy of that automobile given to young Bill at sixteen to make him ‘self-reliant.’ At first petting was a desperate adventure even under such favorable conditions, but presently confidences were exchanged and the old commandment broke down. […] But petting in its more audacious manifestations was confined to the wealthier classes – among other young people the old standard prevailed until after the War, and a kiss meant that a proposal was to be expected […]. Only in 1920 did the veil finally fall – the Jazz Age was in flower.
(F. Scott Fitzgerald: Echoes of the Jazz Age [1931])
Was F. Scott Fitzgerald hier beschreibt, sind Weichen, die gestellt werden. Führen werden sie zu einer Generation, die das Feiern zum kulturellen Selbstausdruck erhebt, sich ihrer Sexualität bewusst sein möchte und das mit einem Interesse für damals als unmoralisch verschrieene Kunst verbindet. Dieser Beginn jugendlicher Gegenkultur geht zurück auf das Erkunden von Grenzen, die Zelebrierung eigener Unbedarftheit, oft mittels des Exzesses, und der Suche nach Identifikationsmöglichkeiten und schließlich Identität. Dass sich das für uns heute nicht fremd anhört, hat einen besonderen Grund: Die soziokulturellen Wurzeln des Pop liegen in ebendiesem adoleszenten Hedonismus zwischen den Weltkriegen.
Damit liegt es in der Natur der Sache, dass Fitzgerald in seinem Essay teilweise elementare Aspekte des Popdiskurses vorwegnimmt. Er stellt sich die (Groß-)Elterngenerationen vor, die im Irrglauben leben, es gäbe nach ihnen ganze Generationen, die nie einen Schluck Alkohol zu sich nehmen würden (Von 1919 bis 1933, also das komplette Jazz Age über, war Alkohol in den USA verboten) und fügt süffisant hinzu: „Meanwhile their granddaughters pass the well-thumbed copy of Lady Chatterley’s Lover around the boarding-school and […] know the taste of gin or corn at sixteen.“ Und im Zentrum all dessen liegen Musik und Sexualität: „The word jazz in its progress toward respectability has meant first sex, then dancing, then music“, schreibt Fitzgerald 25 Jahre bevor ähnliches dem Rock’n’Roll zugeschrieben werden sollte.
Weitere sechs Jahrzehnte später ist der Proto-Pop selbst zum Pop geworden. In Woody Allens Midnight in Paris findet sich der zeitreisende Hauptcharakter Gil im Paris der 1920er Jahre auf den Partys der Bohème dieser Zeit wieder. Er trifft Ernest Hemingway und Gertrude Stein, Luis Buñuel und Josephine Baker, hört Cole Porter [I]Let’s Do It singen und auch F. Scott Fitzgerald läuft ihm über den Weg. Die Erste, die ihn anspricht, ist Scotts Frau Zelda, von der Gil später sagt, sie sei genau so, wie man sie sich vorstelle („brilliant and all over the map“), und die gemeint ist, wenn Neil Tennant in Being Boring singt: „I came across a cache of old photos / and invitations to teenage parties / Dress in white, one said with quotations / from someone’s wife, a famous writer / in the nineteen-twenties“. Das Zitat, von dem die Rede ist, ist dieses hier, aus Zelda Fitzgeralds Essay Eulogy on the Flapper von 1922, und abgedruckt auf der Rückseite der Hülle der Single:
[S]he covered her face with powder and paint because she didn’t need it and she refused to be bored chiefly because she wasn’t boring. She was conscious that the things she did were the things she had always wanted to do.
Heute, in einer Zeit, in der ein Gros der Werbekampagnen großer Konzerne sich bemüht, auf die Möglichkeiten hinzuweisen, wie die Selbstentfaltung des Konsumenten von ihrem Produkt profitieren könnte (Eine Entwicklung, die vom „Siegeszug“ des Pop nicht zu trennen ist), mag ein solches Zitat trivial klingen. Vor neunzig Jahren sahen die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen aber anders aus, was sich in einer umso schwerwiegenderen Beschränkung der heute so propagierten Selbstentfaltung erst recht für denjenigen, der nicht männlich, weiß oder heterosexuell war, äußerte. Für den Teenager in Being Boring, der diese Zeilen, wie die zweite Strophe nahelegt, Ende der Sechzigerjahre, der vielleicht einflussreichsten Blütezeit des Pop, liest, sind sie eine Befreiung: „And opened up a closing door / she said ‘We were never feeling bored’“
Der Zusammenhang des emanzipatorischen Gehaltes des Zitates und dieser geschlossenen Tür wird für den weiteren Verlauf dieses Essays von Bedeutung sein, aber zuerst lohnt sich ein näherer Blick auf das Setting des Songs. Tennant beginnt den Text damit, seinen Protagonisten anhand von Memorabilia – der Einladung mit dem Zitat – sich an seine Jugend erinnern zu lassen. Damit ist von Anfang an einer der wichtigsten Akteure des Songs präsent: Die Zeit. Being Boring spielt in der Gegenwart und blickt auf die Vergangenheit zurück, um am Ende wieder in das Jetzt zurückzukehren und es mit dem Davor zu verbinden. Begleitet wird diese Dramaturgie von bittersüßer Nostalgie.
An dieser Stelle macht es Sinn, auf den Beitrag der anderen Hälfte der Pet Shop Boys einzugehen. Mit der Melodie in Thema und Refrain legte Chris Lowe den Grundstein für die Komposition. Sie ist catchy und melancholisch, positioniert sich recht offensiv als tragendstes musikalisches Element des Songs, wirkt dabei aber introvertiert. Überhaupt ist die kompositorische Raffinesse des Tracks hervorhebenswert. Da der Song melancholisch aber nicht sentimental ist, eignet er sich nicht, um als emotionsbetonte Ballade interpretiert zu werden. Er erfordert ein viel zurückhaltenderes Arrangement: kühl aber nicht klinisch. Being Boring ist tanzbar: Beat und Bassline sind durchaus etwas schneller und antreibend, sie treten aber nie in den Vordergrund. Ein bewusstes Understatement. Der Tonartwechsel zwischen Strophe und Refrain ist ein weiterer cleverer Kniff. Wenn Neil Tennant einen Halbton höher als erwartet anfängt zu singen „We were never being boring“, wird die Nostalgie von einem vorsichtigen Optimismus unterwandert.
Die Emotionen des Songs werden musikalisch unter der Oberfläche gehalten, damit sie von den Lyrics nach außen getragen werden können. Tennant und Lowe lenken die Aufmerksamkeit auf die Geschichte, die sie erzählen. Dem Gesang kommt damit automatisch eine wichtigere Rolle zu. Ähnlich dem Arrangement des Tracks hält sich Neil Tennant auch hier zurück. Er hält die Stimme gesenkt, manchmal wirkt es sogar, als würde er gleich zu flüstern beginnen. Für seine Verhältnisse singt er außerdem ungewöhnlich tief. Seine höheren Trademark-„Schuljungen“-Vocals werden in die zweite Gesangsspur verlagert und in den Hintergrund gemischt. Dazu kommt, dass keine zweite Stimme gesungen wird, sondern die Gesangsmelodie in zwei Oktaven höher gedoppelt. So dienen die Backing Vocals wirklich nur der Stützung der ersten Stimme statt ein eigenes Fass aufzumachen. Die komplette musikalische Umsetzung ist darauf ausgerichtet, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Eine Soul- oder gar Rock-Interpretation jedenfalls würde Being Boring seiner Essenz berauben.
Dass Zeit eine wichtige Rolle spielt, haben wir bereits festgestellt. Konkret wird in jeder Strophe eine Dekade genannt: In der ersten die 1920er, von denen die Ideale inspiriert sind, denen der Protagonist folgt. In der zweiten Strophe wird er vor den negativen Konsequenzen dieser Ideale in der nahen Zukunft, den 1970ern, gewarnt. Diese Warnungen werden natürlich in den Wind geschlagen: „But I sat back / and looking forward / My shoes were high / and I had scored“. Die hohen Schuhe weisen auf das Aufkommen des Glam Rock und später Disco hin, der jugendliche Ich-Erzähler verlässt Unschuld und Elternhaus, und letzten Endes werden sich seine Erwartungen bewahrheiten: „I would never find myself feeling bored“. Die Zeile „I had scored“ kann außerdem sowohl sexuell interpretiert als auch mit Drogen in Verbindung gebracht werden. Während die ersten beiden Strophen sich quasi nur auf den Ich-Erzähler konzentrieren, spielen im Refrain (und in der dritten Strophe) auch seine Weggefährten eine direkte Rolle: „We dressed up and fought / then thought: Make amends / And we were never holding back / worried that / time would come to an end“. Being Boring handelt auch von Freundschaft.
Das alles geschieht allerdings nicht im Stil des klassischen Storytellings. Wir erfahren vom Anfang und vom Ende der Geschichte. Was dazwischen passiert, steht zwischen den Zeilen. In der dritten Strophe nämlich kehren wir schließlich in die Gegenwart, die frühen 1990er, zurück. Der Teenager, der in die Welt hinaus zog, ist nun erwachsen und sitzt „in rented rooms in foreign places“, ein Hinweis auf eine Künstlerexistenz. Blickt er sich um, stellt er fest: „All the people I was kissing / Some are here and some are missing / in the 1990s“. Durch den Hinweis auf die Küsse wird ein Zusammenhang zwischen körperlicher Intimität und dem Verlust dieser Leute impliziert. Beim Betrachten der dritten Strophe ist es nun aber nicht nur sinnvoll, sich das genauer anzusehen, was sie von den ersten beiden Strophen abhebt, weil man es in diesen nicht findet – nämlich die direkte Bezugnahme auf Freunde und Liebschaften. Es lohnt sich auch, darüber nachzudenken, was hier erstmals weggelassen wurde, nämlich die bereits genannte, ominöse Tür, die sich in Strophe 1 öffnet und durch die die Hauptfigur in Strophe 2 in die Welt zieht.
Wenn man sich als homosexuell outet, nennt man das im Englischen „to come out of the closet“. Nun bedeutet „closet“ nicht nur Wandschrank, sondern auch Geheimraum, der Begriff ist eine Metapher für eine versteckte Existenz. Wenn Tennant, der Berichte über seine Homosexualität in den Achtzigern übrigens schlicht unkommentiert ließ und erst 1994 auch öffentlich aus seinem eigenen Geheimraum trat, singt, dass seine Entdeckung der populären Gegenkultur dem Ich-Erzähler eine Türe öffnet, ist das auch als Anspielung auf die Beziehung von Popkultur, sexueller Befreiung und Schwulenbewegung zu sehen. In der dritten Strophe ist die Tür absent, eine ferne Erinnerung. War er erst durch sie gegangen, gab es für ihn plötzlich die Hoffnung, sein zu können, wer er sein möchte. Diese Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Die Zeile „I never dreamt / that I would get to be / the creature that / I always meant to be“ bedeutet nämlich genau das.
Im Unausgesprochenen findet sich noch ein letzter wichtiger Aspekt; es ist wohl sogar der wichtigste. Eine Dekade wird nämlich einfach übersprungen: Die 1980er. Dabei ist es genau diese Zeit, in die die folgenschwersten Ereignisse für die Charaktere des Songs fallen. Es ist die Dekade der AIDS-Epidemie. Die „I never dreamt…“-Zeile geht so weiter: „But I thought / in spite of dreams / you’d be sitting somewhere here with me“. Der wehmütige Blick zurück ist nicht mehr nur auf einen simplen Anflug von Nostalgie zurückzuführen, sondern auf die Trauer um einen verstorbenen Freund. Tatsächlich hat Being Boring einen autobiographischen Bezug. „It’s about a friend of mine who died of AIDS“, sagte Neil Tennant einmal im Interview, „it’s about our lives when we were teenagers and how we moved to London, and, I suppose, me becoming successful and him becoming ill“.
Being Boring ist bei weitem nicht der einzige Track im Backkatalog der Pet Shop Boys, der sich der AIDS-Thematik annimmt. Der erste dürfte It Couldn’t Happen Here vom 1987er Album Actually gewesen sein, der den naiven Umgang mit dem Aufkommen der Krankheit in Großbritannien attackiert. Auf Bilingual findet sich der selbsterklärende Titel The Survivors. Dreaming of the Queen vom Bestseller Very ist eine Art Update der Thematik AIDS und Popkultur im Wandel dessen, was Diedrich Diederichsen als den Übergang von Pop 1 zu Pop 2 bezeichnen würde (Worauf näher einzugehen hier den Rahmen sprengen würde), und letztes Jahr deuteten Tennant und Lowe die Bruce Springsteen-Anti-Kriegs-Hymne The Last to Die in ihrem Cover zur Reflexion über das Leben eines schwulen Mannes in und nach der AIDS-Krise um.
Auf der It’s Alright-Single findet sich außerdem die B-Seite [I]Your Funny Uncle, das die Trophäe für den traurigsten Song von Tennant und Lowe mit nach Hause nehmen dürfte. Im Prinzip ist dieser Song eines der Puzzleteile, die uns in Being Boring bewusst vorenthalten werden. Er handelt von der Beerdigung des Freundes, der beide Titel inspirierte, und beschreibt das nahezu absurde Bild der Trauerfeier. Bei dieser stehen die – wie man annehmen darf, zu einem größeren Teil aus Mitgliedern der LGBT-Szene bestehenden – Freunde des Toten neben den mit der Situation überforderten Angehörigen, die sich zuerst mit der Akzeptanz ihres schwulen Sohnes schwer taten und nun plötzlich mit seinem Tod umgehen müssen: „A windy day / The cars in slow formation / Not far away / a final destination / One mother’s son / His father’s distant gaze regretting / where they went wrong / He always found it too upsetting“. Schließlich ist es ausgerechnet der dem Militär angehörige Onkel, der die Brücke zwischen den beiden Trauergruppen schlägt: „And at the end / Your funny uncle staring / at all your friends / with military bearing / and stopped to stand / to smile and speak of you directly / Goodbye, shake hands / like you did everything correctly“. Selbst er sieht den Geheimraum und seine Tür nicht mehr.
Ein ganz besonderer Reiz Being Borings besteht darin, dass es zwei Lesarten zulässt, die sich nicht widersprechen: eine universelle und eine spezielle. Erstere hat das Aufkommen populärer Gegenkultur zum Inhalt, beschäftigt sich mit jugendlicher Identitätssuche, Freundschaft und vergangener Zeit. (Die B-Seite We All Feel Better in the Dark übrigens passt konzeptuell wunderbar zu ihrer A-Seite, da sie Euphorie und Sexualität in einem Club beschreibt. Der hedonistische Gegenentwurf zur bürgerlichen Existenz, der die Basis für das Weltbild der Charaktere in Being Boring bildet, wird hier in seiner damals aktuellsten Form in Aktion dargestellt.) Die zweite Lesart formt sich an den Details und fügt der Grundgeschichte ein näher beschriebenes Umfeld – die Schwulenbewegung – sowie eine persönliche Tragödie hinzu. Das gelingt durch cleveres Songwriting und ein musikalisches Arrangement, das der komplexen emotionalen Natur des Songs absolut gerecht wird. Being Boring ist ein essentielles Stück Popkultur, das deren Rezeptionsgeschichte begriffen und um einen wichtigen Blickwinkel bereichert hat. Es erzählt eine Geschichte, die ihre Tragik selbstbewusst reflektiert und subtil auf einen Nenner bringt, der die Schönheit, die dem Prinzip adoleszenter Gegenkultur anhaftet, genauso einfängt wie die Melancholie des universellen Themas Verlust.
[…] and it seemed only a question of a few years before the older people would step aside and let the world be run by those who saw things as they were – and it all seems rosy and romantic to us who were young then, because we will never feel quite so intensely about our surroundings any more.
(F. Scott Fitzgerald: Echoes of the Jazz Age)
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