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Original & Fälschung
Oasis / Cat Power – Wonderwall [1995 / 2000]
Wenn ein Song derart bekannt ist, dass das Bereitstehen einer Gitarre auf einer Party unweigerlich das Erklingen seiner Anfangsakkorde zufolge hat, ist nur einer der Gäste einfallslos und aufmerksamkeitsbedürftig genug, sollte es sich eigentlich verbieten, auch nur zwei Worte über ihn zu verlieren, die keine weltbewegenden neuen Erkenntnisse mit sich bringen. Hat der Interpret genügend Credibility – und da es hier um Wonderwall geht, haben wir es mit einer Band zu tun, die wie nur wenige kommerziellen Erfolg und Credibility zusammengebracht hat – folgt auf totgespielt unweigerlich totrezipiert. (Anders sieht es aus, wenn der Interpret nicht genug Credibility hat. Dann wird man Zeuge einer Reflexionsverweigerung, mit der sich auseinanderzusetzen, uns zu sehr von der Intention dieses Textes entfernen würde.)
Natürlich ist diese Einleitung ein ganz mieser Trick meinerseits. Der Leser wird ahnen, worauf ich hinaus will, weist doch das Wort „eigentlich“ schon sehr ungalant auf die Pointe des Ganzen hin: Ich stelle eine Regel auf, um mit ihr zu brechen. Ich werde jetzt ein paar Sätze über Wonderwall schreiben und seiner Geschichtsschreibung nichts neues hinzufügen. Doch dient der Hinweis auf diesen Bruch nicht nur der Vorlage für den Bruch selbst sondern auch für die Einleitung einer neuen Rubrik. In dieser, „Original und Fälschung“ genannt, werden Cover ihren Originalversionen gegenübergestellt. Das heißt, in diesem Text geht es zwar um den Oasis-Song Wonderwall. Um den Oasis-Track Wonderwall hingegen geht es anfangs nur, um das eigentliche Objekt von Interesse, den Cat Power-Track Wonderwall, besser einordnen zu können. Der Bruch mit oben vorgegebenem Codex ist Mittel zu einem höheren Zweck. Man sehe ihn mir nach.
Oasis
In die Höhle des Löwen also. Wonderwall fährt mit einem der ikonischsten Sets Anfangsakkorde der Neunzigerjahre auf, geschlagen wohl nur von dem zu Nirvanas Smells Like Teen Spirit. In beiden Fällen sind sie Ankündigungen von Attitüden, die in den folgenden vier (bei Nirvana sind es fünf) Minuten Popmusik untermauert werden sollen. Die musikgewordene Formulierung der zu beweisenden These, wenn man so will. (Wie wirkungsvoll so ein Einstieg ist, merkt man auch dann, wenn der Hobbygitarrist aus dem ersten Satz nach Wonderwall noch Smells Like Teen Spirit anstimmt.) Diese ist ein Ruf zu den Waffen; die Aufforderung, die Konsequenz aus der Trostlosigkeit des Heute zu ziehen und für ein besseres Morgen zu sorgen. Beide Songs implizieren dabei die Rechtmäßigkeit dieses Wandels. Sie fordern ein, was ihnen zusteht. Dennoch lassen wir Kurt Cobain hier hinter uns. Dem wohnt ein „Sprachrohr einer missverstandenen Generation“-Gestus inne, der für Wonderwall keine weitere Rolle spielt. (Für andere Oasis-Songs durchaus, unter anderen für ihren besten, allerdings weniger für eine „missverstandene Generation“, als viel mehr für einen klassenbewussteren, regional verwurzelteren Teil von ihr.)
Noel Gallagher setzt seine Forderungen in einem persönlicheren Rahmen an. Seine Worte richten sich an eine Love Interest, der gefälligst klar zu sein hat, mit wem sie ihre Zukunft zu verbringen gedenkt. „By now / you should’ve somehow / realized what you gotta do“, kommt es gewohnt selbstbewusst von Liams Lippen. Selbst die Romantik ist arrogant im Hause Gallagher. Doch steht dieses starke Selbstbewusstsein nicht um seiner Selbst Willen. Geschickt gibt Noel im Refrain seiner Arroganz den Anklang eines Verteidigungsmechanismus, wenn er zugibt, von irgendjemandem gerettet werden zu müssen. „Cause after all / you’re my wonderwall“ – ein Eingeständnis von Abhängigkeit. Auch der Person, der seine Begierde gilt, wird ein tragischer Hintergrund zugeschrieben: Die Zeile „Word is on the street / that the fire in your heart is out“ legt eine Desillusionierung in ihrem Liebesleben nahe, vermutlich von einer schmerzhaften Trennung verursacht. Das die Strophe beschließende „I don’t believe that anybody / feels the way I do / about you now“ macht die Abhängigkeit des Protagonisten zur Gegenseitigkeit. Davon muss diese Person nur noch überzeugt werden.
Im Hinblick auf Cat Powers Version ist der Aufbau, der vom arrogant-selbstbewussten Verehrer zum eigentlich gebrochenen und daher abhängigen Verehrer führt, von besonderem Interesse. Dieser findet nicht plötzlich statt. Ein Teil des Tracks dient genau diesem Zweck. Im Vorrefrain („And all the roads we have to walk are winding…“) wird auf diesen Shift vorbereitet. Zum einen tragen seine Zeilen das Eingeständnis in sich, der gemeinsam zu gehende Weg sei kein leichter und er schließt mit dem ersten Schwächegeständnis („There are many things that I would like to say to you / But I don’t know how“). Er ist aber auch die einzige Stelle im Song, an der von einem „Wir“ die Rede ist. Die Idee der Partnerschaft wird hier ausformuliert, der Weg, der schließlich zur gemeinsamen Zukunft und damit einer Art Katharsis führt, metaphorisch ausgemalt. Er ist die Brücke für die Gegensätze, die der Texter als für die Verbindung seiner beiden Figuren unabdinglich konstituiert hat.
Cat Power
In Cat Powers Version fehlt dieser Teil komplett. Das ermöglicht eine Monotonisierung des Songs. Rein kompositorisch sticht der Vorrefrain am meisten aus Wonderwall heraus. Refrain und Strophen sind nicht identisch, aber zumindest ähnlich genug, dass eine leichte Abwandlung der Akkorde zur Folge hat, dass man ihre Gesangsmelodien über die gleiche Akkordfolge singen kann. Genau das tut Chan Marshall: Vier Akkorde ziehen sich durch das ganze Stück. Bis auf eine Akustikgitarre gibt es keine weiteren Begleitinstrumente. Die Akkordfolge klingt melancholisch und wird deutlich langsamer gespielt, als es im Original der Fall ist. Sein Selbstbewusstsein und seine Lebensenergie sind völlig absent.
Mit gutem Grund: Die Brücke, die Noel Gallagher im Original baut, um sich und das Objekt seiner Begierde zu vereinen, wird von Cat Power abgerissen. Nicht, um zu verhindern, dass sie überquert wird, sondern weil sie nicht mehr überquert werden muss. Die Brücke fehlt, weil der gemeinsame Weg bereits gegangen wurde – und zu einem Ende geführt hat. Das Auslassen des Vorrefrains – Wir erinnern uns: Nur dort findet sich die erste Person im Plural – hat die Eliminierung des „Wir“ zur Folge. Cat Power macht aus Wonderwall, einer stürmischen Hymne auf den erhofften Neubeginn einer Beziehung und der damit einhergehenden Hoffnung am Horizont, einen Trennungssong. Kein Wunder also, dass sie ihr bestes daran tut, allen Sturm und Drang aus dem Stück zu entfernen und durch ein monotones Trauerspiel zu ersetzen. Sie steht nicht vor einer ungewissen, aber vielversprechenden Zukunft, sondern vor dem Glashaufen, der von ihr übrig ist. Ihre Gedankenwelt ist vollkommen in sich gekehrt, der Horizont interessiert sie nicht.
Von dieser Ebene aus findet eine Umdeutung des kompletten Textes statt. Sei es das jedem Selbstbewusstsein beraubte, mit Trauer gefüllte „I don’t believe that anybody / feels the way I do / about you now“, das sich plötzlich auf den völlig zerrissenen inneren Zustand des Liebeskummers bezieht und damit vollends von der klaren Linie der ursprünglichen Aussage abgekommen ist, oder die Zeile „Word is on the street / that the fire in your heart is out“, die nun die jüngst verblasste Liebe der Love Interest für den Protagonisten und damit die Quelle seines trostlosen Zustandes adressiert, statt die Basis für eine bessere, gemeinsame Zukunft zweier niedergeschlagener Individuen zu schaffen. Gleichzeitig gesteht sie diesem Verblassen der Liebe nur eine Gerüchtsqualität zu. Aus Gründen, denen wir uns am Ende näher zuwenden, darf diese nicht als tatsächlicher Fakt formuliert werden.
Chan Marshalls Vortrag ist beeindruckend. Sie hat einen Weg gefunden, die bittersüße Schönheit der Melancholie in ihrem Gesang alleine zu transportieren. Zugute kommt ihr dabei die Mädchenhaftigkeit ihrer Stimme. Sie klingt naiv und unschuldig. Hört man die damals 28-Jährige sprechen, schließt man auf genau das und nicht auf ihre Historie mit Depressionen und Alkoholismus. Hört man sie singen, ist das umso berührender, weil sie diese hörbare Unschuld mit einem Gesangsstil kreuzt, der eine Person nahelegt, in der jegliche Hoffnung gestorben ist. Auch andere Sängerinnen spielen mit diesen Gegensätzen, etwa Beth Orton oder Beth Gibbons von Portishead. Doch wo Orton dem Mädchen in ihr zahlreiche unbeschwerte Momente zum Atmen bietet, und Gibbons mit ihrer Unschuld immer wieder bricht, um ihren Dämonen die Stirn bieten zu können („I just wanna be a woman“ singt sie in Glory Box), geht Marshall auf keiner Seite irgendwelche Kompromisse ein. Ihr Gesang ist immer der einer 14-Jährigen mit der Emotionswelt einer gebrochenen 30-Jährigen. In anderen Worten: herzzerreißend schön.
So wird ihre Wonderwall-Version, die es seinerzeit übrigens nicht auf ihr exzellentes Cover-Album The Covers Record geschafft, aber durch einen Einsatz in John Peels Radiosendung dennoch ihren Weg in die Welt und auf diverse Compilations gefunden hat, umso erdrückender, aber eben auch emotional mitreißender. Am Ende des Tracks angekommen, greift Marshall ein letztes Mal in das Arrangement ein: Erst hier erklingt der Refrain, der im Original zu diesem Zeitpunkt bereits die Strophen zwei und drei getrennt hat, zum ersten und letzten Mal. Er wird zu einem letzten Appell, einem Zeugen einer irrationalen Hoffnung, die Marshall selbst durch ihren hoffnungsbefreiten Gesang konterkariert. Er bezeugt, dass das Ende immer noch nicht realisiert und daraus folgend die Abhängigkeit, die im Original noch so glorios zur Verbindung von Verletzlichkeit und Selbstbewusstsein diente, nun aber nur noch erbärmlich ist, immer noch nicht gebrochen ist. Für die verlassene Person ist der Gedanke, verlassen worden zu sein, nicht greifbar, weil er für sie vollkommen unlogisch ist. Es muss einfach ein gutes Ende nehmen, es geht nicht anders. „After all / you’re my wonderwall“, singt Chan Marshall im traurigsten Tonfall, sich im strömenden Fluss an den dünnsten Ast klammernd. Wir sehen ihr beim Untergehen zu, während sich die bittere Realisierung einstellt, dass irgendwann jeder Schlachtruf zum Verzweiflungsschrei werden kann.
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