Re: SCOTT WALKER – Bish Bosch

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herr-rossi
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tolomoquinkolom
Einige Aussagen zu den Alben von Scott Walker (hier im Forum und auch anderswo) scheinen mir seltsam und entweder auf einem Missverständnis im Zusammenhang mit Walker zu beruhen oder auf Interpretationseifer oder Überhöhungswillen. In Religionen geschieht dies auch, wenn dort Unverstandenes oder Unerklärliches für eigene Zwecke gedeutet wird. Etwas ähnliches dürfte bei einigen Walker-Wallfahrern auch geschehen. Was da in Werke hineininterpretiert wird, hat oft mit der Arbeit des Künstlers wenig zu tun und was als Kunst zelebriert wird ist viel eher der Kunst eigenen Deutens geschuldet.

(…) Scott Walker hat auf diese Zusammenhänge u.a. in der von dir erwähnten und sehr sehenswerten Dokumentation von Stephen Kijak hingewiesen. Der Mann leidet unter massiven Albträumen und ein wesentlicher Teil des Spätwerks hängt mit dem Versuch zusammen diese zu verarbeiten bzw. loszuwerden. Nach exzessiven Versuchen mit Alkohol und Drogen nun mit den Mitteln von Klängen und Musik. Die Resultate als Albenveröffentlichung haben also für Walker eine ganz andere Bedeutung, als für die konsumierenden Fans. Es sind für mich dieses zielstrebigen Austreibungsversuche, die mich an Scott Walker beeindrucken.

Und deswegen ist es keine Kunst? Weil Scott Walker in seiner Musik auch persönliche Alpträume verarbeitet? Wäre Kunst dann im Umkehrschluss ein Werk, das von einem Künstler in größtmöglicher Distanz zum eigenen Ich erstellt wird? Das eine wie das andere ist in der Kunst selbstverständlich möglich. Bei Walker habe ich aber (streng subjektiv natürlich) nie das Empfinden, dass ich hier dichter an persönliche Abgründe herangeführt werde, als ich möchte. Das Problem habe ich z.B. mit Soap & Skin. Zwischen Walkers Werk und Walker selbst gibt es immer noch genügend Distanz.

Was die Fans bzw. Hörer angeht: Was wäre denn so ungewöhnlich daran, dass sie diese Musik anders verstehen, als möglicherweise vom Künstler intendiert bzw. dass sie es subjektiv mit Sinn aufladen. Ist das nicht auch ein Wesen von Kunst? Und wäre eine Kunst nicht langweilig, in der die „Aussage“ eines Kunstwerkes eindeutig und sofort lesbar wäre? Die keinen Spielraum für Interpretationen gäbe? Kunst ist letztlich Kommunikation und existiert nicht ohne die Rezipienten.

Die Spätwerke CLIMATE OF THE HUNTER, TILT, THE DRIFT und bald auch BISH BOSCH legitimieren sich als Kunstwerke, weil es die Frühwerke und den Walker-Brothers-Pop gibt?

Sie legitimieren den von Dir angesprochenen „Kunstverdacht“. Ja, der Hörer, der um Scotts frühere Werke weiß und sie schätzt, der wird sich nicht die Frage stellen, ob „Tilt“ usw. Kunst sind oder nicht. (PS: Ich rechne, es wird Dich nicht erstaunen, auch Pop zu den Künsten.) „Climate Of Hunter“ würde ich noch nicht zu den „schwierigen“ Alben rechnen. Es ist ein außergewöhnliches Album, aber für mein Empfinden immer noch ein Pop-Album.

Ich habe nie von einem ‘Hurz’ gesprochen (was immer das auch sein mag). Und zu SCOTT WALKER – 30 CENTURY MAN siehe oben.

Ich habe Deinen Post als Aufhänger genutzt, um einige andere Punkte anzusprechen, die hier schon auftauchten.

Wie kommst du darauf, ich nähme Scott Walker nicht ernst, hielte ihn gar für einen Blender oder Spinner? Ganz im Gegenteil. Für mich ist der Heldentenor ein Painter, dessen Arbeitsmaterial allerdings nicht Pinsel und Leinwand sind und dessen Sujet das Grauen ist. Und damit wären wir beim Thread-Thema: bei BISH BOSCH und Hieronymus.

Dann verstehe ich Deine Frage nach dem „Kunstverdacht“ aber erst recht nicht.

Manche verstehen nicht, finden es aber trotzdem toll. Oder schön, obwohl sie Walker vielleicht einmal pro Jahr genießen. Der Künstler selbst hört ein fertiggestelltes Werk überhaupt nur ein einziges Mal. Danach nie wieder. Verständlich, denn niemand kehrt freiwillig in eine erfolgreich gebannte Albtraumwelt zurück.

Wo liegt das Problem? Muss ein Album, das man schätzt, notwendigerweise in „heavy rotation“ laufen? Kann es nicht auch ein besonderes Erlebnis sein, auf das man sich einlässt? Ich bin kein Klassik-Kenner, aber wenn ich mal in eine Oper gehe, lasse ich mich darauf ein. Ich lasse mich auch auf ein Free Jazz-Konzert ein, auch wenn das bislang nicht meine Musik ist. Ob ich die Musik dann „verstanden“ habe oder beurteilen kann? Ich würde keine Opernaufführungen und keine Free Jazz-Alben besternen, dazu fehlen mir die Vergleichsmaßstäbe.

Bei den erklärten Fans des Walker-Spätwerks gehe ich mal davon aus, dass sie diese Alben häufig hören. Dass es zwischen „für mich mit die besten Alben aller Zeiten“ und „totaler Schrott“ aka „Hurz“ noch ein paar Nuancen der Wahrnehmung gibt, sollte doch nicht weiter verwundern.

Dass ein Künstler sich abgeschlossene Aufnahmen nicht mehr oder nur eher ungerne anhört, ist doch der Normalfall, die Aussage habe ich schon so häufig gehört oder gelesen und kann sie bestens nachempfinden.

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