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Die Plattentests.de Rezension empfand ich dann allerdings doch eine gute Spur inspirierender (und auch unterhaltsamer):
Plattentests.deMarxistische Kapitalismuskritik und Eskapismus
Man stelle sich folgende Situation vor: Ein durchschnittlich lebensfroher, der Gitarrenmusik zugeneigter und durchaus für musikalische Experimente mit Lärm zu begeisternder Musikredakteur wühlt sich durch eine Mitarbeitermail vom Chef. Darin: die Veröffentlichungen der nächsten Wochen samt Infomaterial und liebevoll drapierter Pressetexte, die einen ersten Eindruck vom Feilgebotenen vermitteln sollen. Wie das Kind an Weihnachten pickt sich der Schreiber einige Alben heraus. Manches aus Vertrautheit, anderes aus Neugier. Halb bewusst, halb in Eile wählt er die neue Platte von Scott Walker. Dem Scott Walker, dem großen Alleszermalmer, dem Wahnsinnigen, der seit Jahrzehnten auf großer Eroberungstour in den Territorien von Pop, Avantgarde und Noise unterwegs ist. Und schon nach dem ersten Durchgang wälzt sich der Schreiber wie im Fiebertraum in seinem Bett und wacht am nächsten Tag mit verstörenden Textzeilen im Ohr auf. Was ist da nur passiert? Wie soll er verstehen, was das war und noch viel schlimmer: Wie soll er darüber schreiben? Drei Vorschläge über das Scheitern.
1. Ich darf mir nichts vormachen: Es muss einfach an mir liegen. Ich, allein ich, bin schlicht zu doof, harmonieliebend und unmusikalisch für das Werk Scott Walkers. Zumindest für die hochkomplexen Alben seit „Tilt“ aus dem Jahr 1995. Die uralten Popgeschichten wie „The sun ain’t gonna shine anymore“ – meinetwegen. Das verstehe ich noch. Aber das hier? Da schneidet Walker bei „Corps de blah“ also Verdauungsgeräusche hinein. Ja, tatsächlich. Ich reagiere, wie ein überangepasster Normalo eben reagiert: etwas beschämt grinsend. Immer wieder plumpsen völlig willkürlich bratzende Gitarren hinein. Und der Samba von „Phrasing“ gehört eher auf den Straßenkarneval in Gelsenkirchen, der Stadt mit den ärmsten Kindern Deutschlands. Also echt jetzt. Lachhaft, völlig unhörbar. Würde auf dem Cover nicht Scott Walker stehen, würde sich das kein Schwein anhören. Soso, an Hieronymus Bosch soll das Album konzeptionell anschließen? Ich denke dabei eher an Cy Twombly und seine abstrakten Schmierereien und sage bescheiden: Das kann ich auch. 1/10.
2. Ihr Armen, die Ihr die himmlische Größe von „Bish Bosch“ nicht sehen könnt. Ihr könnt einem Leid tun. Scott Walker lässt euch in den Abgrund starren, und dieser Abgrund verursacht Schwindel, natürlich. Oh hörtet Ihr nur, wie Walker bereits beim Einstieg alle Register zieht: Somnambul thront seine Stimme über den treibenden, stoßenden, hackenden Percussions, singt sich in ein Mantra, stößt das Tor weit auf zum Delirium. Alles schmerzt, wühlt und schabt, „Bish Bosch“ ist nicht weniger als die Vollendung des Untergangs, perfekter noch als “The drift“. Vergesst Lars von Triers „Antichrist“, vergesst alle Tragödien seit „Romeo und Julia“. Nichts davon ist nur annähernd so kolossal und kompromisslos wie dieses Album. Jetzt, nicht nach tausenden Buchseiten, sondern nach 73 Minuten Musik wird klar, was Heideggers „Sein zum Tode“ sagen wollte. Überhaupt Walkers Symbolismus – überall Verweise: der französische Chanson, die Filme Ingmar Bergmans, das Werk Friedrich Nietzsches, die Bibel. Wir konnten bei dieser infernalischen Perfektion nicht anders und haben unsere Köpfe zusammengesteckt – bald wird sie erscheinen, die erste Ausgabe unseres neuen Fachmagazins „Die Scott-Walker-Studien“ mit dem Thema „Marxistische Kapitalismuskritik und der Begriff des Eskapismus im Werk Scott Walkers“. Nichts ist mehr, wie es war. 10/10.
3. „Bish Bosch“ ist vor allem eines: eine Anstrengung. Scott Walkers extrovertierte Eskapaden verlangen dem Hörer alles ab, an keiner Stelle ist er zu so banalen Zugeständnissen wie Strophe-Refrain, Rockband-Instrumentierung oder Nachvollziehbarkeit bereit. Dabei geht es, entgegen des Videos zum Suspense von „Epizootics!“, in keiner Weise heimeliger oder gefälliger zu auf dem ersten vollen Album seit 2006. Diese erste „Single“ zeigt, welche Kraft die Umwälzungen Walkers haben können. Gerne wäre man dabei gewesen, als der Mann seine ausgebombten Songruinen zum ersten Mal den Labelchefs präsentierte. „Bish Bosch“ räumt die Welt leer, damit der Meister seinen Platz hat. Es gibt nur noch Scott Walker, den einzelnen Künstler, den einen genialischen Geist. In dieser Stilisierung ist dieses Album dem Selbstbildnis Albrecht Dürers näher als den Höllenmalereien Hieronymus Boschs. Und diese Bestimmtheit Walkers auf „Bish Bosch“ sorgt für maßlose Unsicherheit, sie nötigt dem Hörer sowohl Respekt als auch die Geduld eines Zen-Mönches ab. Diese Musik hat Licht und Schatten. Oder besser: Sie führt manchmal von den ewigen Qualen in der Hölle in die aushaltbare Vorhölle. 6/10. (Niklas Baschek)
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Hold on Magnolia to that great highway moon