Re: Ich höre gerade … klassische Musik!

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gypsy-tail-wind
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gypsy tail windEin paar Worte nur, da ich mit solcher Musik mich nicht annähernd so vertraut fühle wie mit den Beethoven-Sonaten von neulich … soviel nur: schwer beeindruckend! Haitink dirigierte ziemlich zurückhaltend, aber die Zusammenarbeit mit dem Orchester funktionierte meist hervorragend (ich glaubte, an einigen Stellen ein paar Ungenauigkeiten zu hören, aber ich mag irren), die Gestaltung des Werkes überzeugte mich soweit ich das sagen kann (ich kenne es noch nicht sehr gut, erst drei-, viermal gehört, jüngst – wohl zum zweiten Mal – die Kempe-Einspielung mit Grümmer/DFD, die ich sehr gut finde). Was mich zu Beginn und auch später immer wieder schwer beeindruckt hat war das Piano, das das Orchester – ohne Ausdünnung wenigstens soweit ich es sehen konnte (die Streicher nur, aber um die ging es gerade) – hinkriegte, da spielten – und manchmal: sangen – sie alle, und man hätte wohl ein Blatt auf den Boden fallen hören. Und dann die Steigerung, die förmlichen Explosionen, Momente, in denen die Musik auch heute noch ziemlich modern wirkt (schwer abzuschätzen, wie das damals wohl gewirkt haben muss, müsste ich mal ein wenig nachlesen). Der Chor war mindestens so eindrücklich wie das Orchester, und die Solisten ebenfalls überzeugend, Gerhaher wurde meinen hohen Ewartungen jedenfalls gerecht und Tilling hatte den undankbaren Part, meist tatenlos dazusitzen, aber ihre Einsätze waren ebenfalls toll. Am Schluss gab es, dünkte mich, zwar keinen wahnsinnig stürmischen, aber sehr langen Applaus.

Weiterlesen:
Haitink im Interview, Tagesanzeiger, 14. Januar 2016
Der Neue Merker: Rezension des ersten Konzertes vom 15. Januar

Und wieder gibt es eine recht ausführliche Kritik in der NZZ, der es viel besser gelingt, die Besonderheit v.a. von Gerhahers Vortrag zu umreissen, als ich es gekonnt (bzw. mangels Vertrautheit mit der Materie gewagt) hätte:
http://www.nzz.ch/feuilleton/buehne/im-zweifel-fuer-den-glauben-1.18678871

Ein Auszug:

Zu verdanken war diese tiefe Einsicht dem Sänger Christian Gerhaher. Er übernahm, neben der Sopranistin Camilla Tilling, den Bariton-Solopart bei drei Aufführungen des «Deutschen Requiems» unter der Leitung von Bernard Haitink. Gerhaher, erst im September am Zürcher Opernhaus als Wozzeck zu erleben, machte mit dem ersten Ton, seinem mahnenden Ausruf «Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss», deutlich, dass die Botschaft dieses dritten Satzes mehr ist als ein kollektiv an die Gemeinde der Zuhörer gerichtetes Memento mori. Das Wissen um die Sterblichkeit bedeutet vielmehr eine existenzielle Erschütterung, es muss jeden Einzelnen auf sich selbst zurückwerfen und unterläuft alle Gewissheiten. «Mein Leben ist wie nichts vor dir», singt Gerhaher, und in dem fahlen, tonlosen «nichts» scheint die Einsamkeit des Gott- und Sinnsuchers auf, der angesichts des Todes allen Glauben verliert.

Immer wieder neu fasst Gerhaher die Wendung «. . . und ich davon muss»: einmal als Aufbegehren, ein andermal als resignierendes Niedersinken, bis der visionäre Weckruf dieses predigenden Zweiflers schliesslich die Sängerinnen und Sänger der Zürcher Sing-Akademie ergreift: «Nun Herr, wes soll ich mich trösten?», fragt der Chor, doch es klingt nicht wie eine Frage, eher wie ein Schrei aus tiefster Not. Dieser emotionale Höhepunkt der Aufführung markiert den Durchbruch zu radikaler Subjektivität, er sprengt die formale Ordnung auf und stellt die dem Werk einkomponierte Leitidee einer Tröstung im Glauben umfassend infrage.

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