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[B]Sun Kil Moon Carissa
Ich gebe Antony Fantano Recht: Auf „Benji“ lässt Mark Kozelek all die Erfahrungen, Eindrücke und Emotionen zusammenfließen, die über Jahre und zahlreiche Songs erprobt wurden. Dieses sechste Sun Kil Moon Album ist Singer/Songwriter Meisterklasse, ein Triump der Zartheit, ein nahezu makelloses Kunstwerk. Ich bezweifle mittlerweile, dass es dieses Jahr noch ein Album geben wird, das mich ähnlich berührt und beeindruckt, wie diese einundsechzig Minuten aus dem Herzen Ohios.
„Carissa“ ist der vielleicht größte Song des Albums, ein filigran gesponnenes Gedenken an Kozeleks Cousine zweiten Grades. Es besingt die Geschichte einer Frau, die gestorben ist, ehe sie wirklich zu leben begonnen hatte. Fast tabellarisch schreibt Kozelek seine Zeilen, die wie kleine Erinnerungen aus den Schubladen auftauchen (The Quietus bezeichnet es als „write-what-you-see approach“, was ich ganz passend finde; auch der Novellencharakter ist ganz da). Er verließ Ohio, sie war damals fünfzehn und bereits schwanger. An einem Begräbnis sah man sich, aber auch das ist nur schwammig. Eines Tages ruft ihn seine Mutter an – Carissa ist bei einem Unfall in ihrem Haus verbrannt, genau wie ihr Großvater, der Müll im Hinterhof entzündete. Gerade fünfundreißig ist sie geworden.
Und dann setzt ein Refrain ein, der so innbrünstig traurig und zugleich hinreißend schön, dass es einem das Herz bricht. Es ist gerade diese einzigartige Stärke Kozeleks, fast unheimlich menschlich zu sein. Es gibt kein Pathos, keine Floskeln, nichts Unnützes. Jedes einzelne Wort ist Teil des Gerüsts. Und Teil seines Lebens. Und es ist soviel mehr als Musik zu Text. Die zarten Gitarrenpickings beschwören eine warme Trance, die so empfindlich wie feinsinnig ist, die sich mit den ersten Zeilen des Refrains noch weiter öffnet und mit den letzten zu repetitiven Mustern abklingt. Mich fasziniert enorm, wie diese sieben Minuten vorüberziehen, ohne auch nur einmal zu langweilen.
„Benji“ vermischt zahlreiche Ereignisse und Gedanken zu verschiedenen Zeiten. Am Anfang beschleichen ihn die Fragen, wie der Unfall geschehen konnte, dann folgt die Spurensuche. Er kehrt zurück zu den Menschen, mit denen er sich das Blut und die Tränen teilt und reflektiert auch über sich selbst. Was war aus der Welt geworden? Warum hatten sich die Ereignisse wiederholt? Wer war der Mensch Carissa eigentlich gewesen?
Um ehrlich zu sein, liebe ich Mark Kozeleks Stimme schon, seit ich zum ersten Mal [I]„Katy song“ gehört habe – der Gesang ist melancholisch, vor allem das, aber er ist auch überaus gefühlvoll und aufrichtig. Es braucht nur ein paar Sekunden und die Songs haben sich unter die Haut genistet. Die Melodik in dieser Stimme steht für sich, sie ist schön, ohne sich dazu zu bemühen. In „Carissa“ gibt es eine ganz Reihe schlicht wunderbarer Momente, in denen die Stimme vor Verwunderung und Schmerzen leicht bricht, wo sie sich klärt, als sie mit Hingabe verkündet, dieses trostlose Leben Carissas noch mit Würde zu verzieren („Meant to give her life poetry or to make sure her name is known across every city“). Kurz: Ich finde seinen Gesang enorm vielseitig, auch wenn man es beim ersten Hören vielleicht nur erahnen kann. Die Arrangements sind etwas freier, aber ich musste schon manches Mal an „Blood on the tracks“ denken, auch an „Songs of love and hate“.
Es gibt einen speziellen Moment, als Kozelek in der Geschichte heimkehrt (die Zweitstimme übernimmt hier übrigens Will Oldham/Bonnie ‚Prince‘ Billy) und die Instrumente harmonisch und fragil zu spielen und schwingen beginnen, wie zuletzt ähnlich himmlisch in den letzten Momenten von „Doo Koo Kim“, dem Unikat von „Ghosts of the great highway“. Nur, dass diese Geister da noch aus Fleisch und Blut waren.
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Hold on Magnolia to that great highway moon