Startseite › Foren › Über Bands, Solokünstler und Genres › Eine Frage des Stils › Blue Note – das Jazzforum › Bill Frisell › Re: Bill Frisell
858-3
Das Gemälde, das in einem kleinen Ausschnitt als Cover von Richter 858 dient.
Ich habe mir mal die Mühe gemacht „Some funny questions and thoughts to remember, forget and /or ignore for Frisell“, die der Produzent David Breskin formuliert hat, komplett abzuschreiben und zu posten. Diese „funny questions and thoughts“ erscheinen mir doch sehr geist- und aufschlussreich:
Questions
What is the role of process as a determinant of style?
What is the difference between a mechanical process and an „organic“ process?
What is the role of gesture versus mechanical procedure?
What is the link between color in painting and tone in music?
What is the link between a „cut“ or „tear“ in a Richter abstract picture and a chord change?
How does space operate in painting? Vis-a-vis in music?
What musical analogs or corollaries are there to: the grid, the brushstroke, the knife cut, the horizontal sweep, the palimpsest?
In what way(s) will you construct the pieces to allow for and support improvisation, if any? And how will such improvisations advance the music and relate to the paintings?
Might there be room in the totality of the project for some collective improvisation, undertaken with certain rules to follow?
What is background in these paintings? What is foreground? How do these ideas work in the invisible world of music?
Thoughts
Think about the story of the way these paintings were made.
Think about ignoring the story of the way these paintings are made, but still looking.
Think of the idea of The Palimpsest as it relates to Richters paintings, your music (palimpsest comes from the Latin/Greek meaning: „scraped again“.)
Think about matte (dry) versus shiny (reverie) surfaces in music and in painting.
Think about painting wet on wet, or improvising on top of a written or played figure before it’s dry.
Think about the negotiation between urban (culture, the built world) and the rural (nature, bucolic wilderness) in these paintings. Your work has undertaken, over the years, a negotiation between these urban and rural oppositions as well.
Think about the paintings as fictions; the same way one does a novel or movie.
Think about the edges of the paintings as framing devices: otherwise a painting would go on forever and never stop, and so wouldn’t be a painting.
Think about the edges of the paintings as beginnings and ends of the pictures.
Think about the nature of time in these pictures: how they are records of their own making. This happened, then this, then this, then this you can see was before and this was after. How unlike music this is. And yet, in both cases: narrative.
Hier werden viele der möglichen Analogien wie auch der Unterschiede zwischen Musik und Malerei angesprochen. Gleichzeitig werden auch Gedanken formuliert, die einiges ins Bewusstsein heben, das in der Malerei und der Musik eher unbewusst existiert oder zumindest nicht in Worten formuliert wird. Vielleicht ist dies aber auch kaum möglich, denn so sehr man auch versucht, in Analogieen zu denken, so sehr wird auch die Eigenart und Autonomie der Kunstformen und damit ihre Natur erkennbar. Lustig eigentlich: Ich versuche hier über Musik zu reden, die über Malerei redet. Oder so ähnlich …
Interessant finde ich auch noch, welche Besetzung Frisell hier gewählt hat: Drei Streicher und E-Gitarre + electronic devices. Eine ähnliche Besetzung hatte er auch schon auf Quartet gewählt. Dort hatte ich das als kleines Orchester bezeichnet, weil er damit einen sehr großen Klangreichtum erzeugen kann. Aneinander stoßende oder sich übereinander legende Klangflächen, Auf- und Abschwellen, kurze abgehackte oder lang gezogene Töne. Mit seiner elektronischen Trickkiste kann Bill Frisell die Illusion von Raum aufbauen, wo gar keiner ist, und mit loops Doppelungen und Überlagerungen erzeugen. Ein großer Reichtum an Klang, aber mit einer relativ kleinen Band, die noch spontan und beweglich ist. Bill Frisell hat für Richter 858 zwar Kompositionen erarbeitet, diese aber nur kurz geprobt und dann live mit Raum für Improvisationen aufgenommen, ohne overdubs und fast immer in einem take.
Noch ein lustiges Paradoxon: Richter 858 ist vielleicht die Bill Frisell-Platte, die den engsten Bezug zu Bildern hat, die aber – wenn man das Bild nicht parallel zur Musik sieht – am wenigsten so klingt. Bei seinen Americana-Sachen gab und gibt es wiederkehrende Motive, die man kennt und die man in Zusammenhang mit gewissen Bildern bringt. Selbst in den Titeln seiner Stücke ist das ja schon enthalten: The Gallows, Ghosttown, Cadillac 1959. David Breskin hatte Bill Frisell aber auch mit auf den Weg gegeben: „No Banjos for Richter!“ in der Tat verweisen ja nicht einmal die Gemälde von Richter auf etwas außerhalb der Bildfläche (außer vielleicht auf andere Gemälde). Vielleicht ist Bill Frisell mit dieser Musik unabsichtlich etwas ähnliches gelungen.
Nur so ein paar Gedanken. Mehr über Bill Frisell demnächst in diesem Kino.
--
„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)