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Richter 858 (2005)
858 Quartet
Bill Frisell: git & electronics; Hank Roberts: cello; Jenny Scheinman: violin; Eyvind Kang: viola
Richter 858 ist bereits 2002 aufgenommen, aber erst 2005 als normal käufliche CD veröffentlicht worden. Ursprünglich waren die von David Breskin produzierten Aufnahmen als Auftragsarbeit Teil einer Buchveröffentlichung mit Gemälden von Gerhard Richter. Der Titel Richter 858 bezieht sich auf eine Serie von abstrakten Gemälden aus dem Jahr 1999, die die Titel 858-1 bis 858-8 tragen. Die vorliegende CD enthält neben der Musik auch ein CD-ROM-Programm mit einer Diashow der Gemälde. Das Booklet enthält neben den Abbildungen der Gemälde auch je ein Interview mit dem Produzenten und mit Bill Frisell. Hank Roberts Eyvind Kang hatten schon mal mit Bill Frisell zusammengearbeitet, mit Jenny Scheinman zusammen bildeten sie dann auf Unspeakable The 858 Strings.
Wir kennen jetzt ja schon Bill Frisells Musik für Filme und auch auf anderen Aufnahmen ist man gelegentlich versucht, die Musik in Zusammenhang mit Bildern oder anderen außermusikalischen Zusammenhängen zu bringen. Ob dies von Bill Frisell immer beabsichtigt ist oder nicht, sei mal dahingestellt. Bei Richter 858 ist dies auf jeden Fall nicht nur intendiert sondern explizit Programm. Jedes Stück ist von einem Gemälde inspiriert, genauer gesagt: Es sind Vertonungen von Gemälden Gerhard Richters.
Vor den Aufnahmen hat David Breskin Bill Frisell ein paar „funny questions and thoughts“ mit auf den Weg gegeben. Einige davon lauten:
„What is the link between color in painting and tone in music?“
How does space operate in painting? Vis-a-vis in music?“
„What is background in these paintings? What is foreground? How do these ideas work in the invisible world of music?“
Think about the story of the way these paintings were made.“
„Think about painting wet on wet, or improvising on top of a written or played figure before it’s dry.“
„Think about the paintings as fictions; the same way one does a novel or a movie.“
Richter 858 beginnt mit einem Schock: Die ersten 2 Minuten sind eine Kakophonie von Gitarre und Streichern, die kreuz und quer durcheinander kreischen, dass es einem die Plomben aus den Zähnen zu ziehen droht. Erst langsam ordnet sich dieses Chaos zu einer erkennbaren Struktur, einem langsam pulsierenden musikalischen Motiv aus dem sich nach und nach einzelne Stimmen herausheben und das sich allmählich verändert. Das lässt sich als Analogie zum Gemälde 858-1 lesen, dass auf der linken Seite mit ein paar chaotisch expressiven Pinselstrichen in scharfen Kontrasten „anfängt“ sich dann aber nach rechts in weich ineinander übergehende Farbflächen „entwickelt“. Der Ansatz Bill Frisells ist also tatsächlich, die Malerei synästhetisch in Musik zu übersetzen.
Was hat er für Mittel dafür? Die Streicher erzeugen Schlieren, wie übereinander liegende Farbflächen oder setzen im pizzicato ein paar Farbtupfer, Bill Frisell legt mit der Gitarre Pinselstriche an, mal ergeben sich durch das Zusammenspiel erkennbare Strukturen, mal geht alles drunter und drüber bis es sich wieder irgendwo fängt. Das eine schiebt sich unter oder über das andere, einiges wirkt geplant, anderes wie improvisiert oder zufällig, manchmal hört sich das bis an die Grenze des Erträglichen disharmonisch und bizarr an, manchmal aber auch zart und meditativ. In 858-6 baut Bill Frisell mit dem Gitarrensynthesizer Klangräume auf, die sich Sun Ra in seinen kühnsten Träumen kaum hätte vorstellen können. Songstrukturen darf man hier nicht erwarten (selbst wenn sie auch mal auftauchen!), aber dafür ist es umso interessanter, welch andere Strukturen es hier zu entdecken gibt.
Man kann die Frage stellen, in wie weit die Umsetzung von Malerei in Musik auf Richter 858 gelungen ist. Malerei und Musik sind nunmal ganz klar verschiedene Dinge und das eine lässt sich nicht durch das andere wiedergeben. Vielleicht gibt es Parallelen und Analogien, die aber immer Interpretationssache sind. Bill Frisell liefert hier eine mögliche Interpretation. Andere Interpretationsmöglichkeiten ergeben sich möglicherweise im Kopf des Hörers. Es werfen sich Fragen über Fragen auf. Funktioniert die Musik auch ohne die Gemälde? Ja, aber anders, hätte ich fast gesagt, und damit hätte man die Lücke, die zwischen beidem besteht, wohl benannt. Vielleicht ist diese Lücke das interessanteste daran.
Eine tolle Platte. Nicht gerade easy listening sondern eine echte Herausforderung an den Hörer. Zum Nebenherhören eigentlich kaum zu ertragen. Wenn man Zeit und Lust mitbringt, sich damit zu beschäftigen, ist das aber faszinierend. Schaffe ich selbst auch bloß etwa einmal im Jahr. Möchte ich aber nicht missen.
Ganz beiläufig möchte ich noch erwähnen, das Bill Frisell auch hier wieder mehr als Bandleader, Komponist und Arrangeur glänzt, als als Gitarrist, der sich als Solist in den Vordergrund drängt.
Hörbeispiel habe ich im Netz nicht gefunden, (außer das hier: http://www.amazon.de/Richter-858/dp/B001S5NNOG/ref=sr_1_2?ie=UTF8&qid=1341871692&sr=8-2) aber die vertonten Gemälde kann man sich hier ansehen:
http://www.gerhard-richter.com/exhibitions/exhibition.php?exID=810
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)