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Weiter geht’s auf meinem (Fast-)Alleinflug durch das Oeuvre von Bill Frisell. Das hier besprochene Album passt da ganz gut.
Ghost Town (2000)
Bill Frisell: e- + a-git, banjo, b, diverses aus der elektronischen Trickkiste.
Hank Williams’ I’m So Lonesome I Could Cry ist einer der Standards, die Bill Frisell auf Ghost Town spielt. Ein anderer ist My Man’s Gone Now von George Gershwin. Damit ist nicht nur die melancholische Stimmung dieses Albums definiert, es wird zumindest auch ein Hinweis auf das Spannungsverhältnis gegeben, in dem es sich Bill Frisell auf Ghost Town bewegt. Country & Western einerseits, Jazz andererseits, wobei beide Genres hier sehr frei interpretiert werden. Die Harmonien scheinen aus dem C&W zu kommen, aber der improvisatorische Ansatz ist jazzig.
Auf dem Cover sieht man ein paar geisterhafte Kobolde in einer nächtlichen Landschaft und man weiß nicht so recht, ob sie freundlich gesinnt sind oder eher den Dolch im Gewande tragen. Auf jeden Fall illustrieren sie die Musik auf Ghost Town sehr gut, denn auch diese changiert zwischen dem Vertrauten und Harmlosen, manchmal vielleicht sogar Naiven einerseits und dem Unheimlichen und Unverständlichem andererseits.
Williams’ I’m So Lonesome I Could Cry und My Man’s Gone Now sind auch gleichzeitig zwei der wenigen auskomponierten Stücke auf Ghost Town. Es finden sich neben einem weiteren Cover (Wildwood Flower von A.P. Carter) zwar noch ein paar andere Kompositionen von Bill Frisell auf Ghost Town, die er schon vorher in anderen Besetzungen aufgenommen hat (Variation on A Theme von Quartet und Poem For Eva von Good Dog, Happy Man). Aber egal ob durchkomponiert oder nicht, scheint Bill Frisell hier eher über den Melodien zu improvisieren und zu meditieren als dass er wirklich an einem Ergebnis interessiert ist. Mal begleitet er sich dabei per overdub selbst auf Gitarre, Bass oder Banjo, mal ist die elektronische Trickkiste sein einziger Begleiter. Auf Winter Always Turns To Spring und Under A Golden Sky entfernt er sich dann auch völlig von irgendetwas, das man noch Song nennen könnte, sondern erzeugt ein Klanggewebe, das wohl näher an Brian Eno oder zeitgenössischer Electronica ist als an Jazz oder C&W.
Skizzen, Fragmente, manchmal bloß kleine Motive mit denen kurz gespielt wird, nur dem eigenen Rhythmus folgend, alles sehr introvertiert und verträumt, zart und zerbrechlich, manchmal sentimental, manchmal heiter aber manchmal auch gruselig. Bill Frisell ganz mit sich allein zuhause. Sicher das feinste und damit auch unscheinbarste aller seiner Alben aber für mich gerade dadurch eins der am meisten anrührenden.
Auf amazon.com gibt es mehr als 30 Reviews von Ghost Town, die zwar überwiegend positiv sind, es gibt aber neben ein paar mittelmäßigen Beurteilungen auch eine ganze Reihe Totalverrisse. „This album is sparse, moody, reverberant, funereal, repetitious.“ und „Listening to this will take an hour from your life you can never get back.“ sind zwei Zitate aus einem 1-Stern-von-5-Sternen-Review. Inhaltlich würde ich da nicht widersprechen. Nur würde ich es genau umgekehrt bewerten.
Ghost Town / Poem For Eva: http://www.youtube.com/watch?v=u71dKeVKEls
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)