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Nehmen wir uns mal das nächste Platten-Paket mit der Beteiligung Bill Frisells vor. Diesmal ist nicht eine Jazz Drummer-Legende der Leader sondern der musikalische Hans Dampf des ausgehenden 20. Jahrhunderts.
Ich habe keine Ahnung wie Bill Frisell in Kontakt mit John Zorn und der „downtown scene“ gekommen ist. Mir scheint es jedenfalls ein riesiger Sprung von der eher schöngeistigen musikalischen Lyrik mit Paul Motian und dem Wohlklang à la ECM, wo Bill Frisell einige seiner ersten Alben als Leader veröffentlichte – letztere kenne ich aber nicht. Ist das ein Versäumnis? Durch die Zusammenarbeit mit John Zorn kommt Bill Frisell auf jeden Fall in einer anderen Realität an, in der nicht in erster Linie der schöne Klang regiert, sondern vor allem die scharfen Kontraste.
The Big Gundown – john zorn plays the music of ennio morricone
(ursprünglich veröffentlicht 1985, in erheblich erweiterter Form wiederveröffentlicht 2000)
u.a. mit Tim Berne, Bill Frisell, Wayne Horvitz, Guy Klucevsek, Arto Lindsay, Big John Patton, Vernon Reid, Toots Thielemans, Derek Bailey, Joey Baron, Marc Ribot und und und …
Eigentlich hat dieses Album hier nur bedingt etwas zu suchen, denn Bill Frisell spielt nur auf einem einzigen Stück mit und ist dort nicht mal als besonders individuelle Stimme zu identifizieren. Ich vermute jedoch, dass es sich bei The Big Gundown um das erste Zusammentreffen von John Zorn und Bill Frisell handelt, das noch Folgen haben sollte. Und damit gehört die Platte eben doch hierher.
Eigentlich ist The Big Gundown auch ein sehr unwahrscheinlich erscheinendes Projekt: Eine bis dahin nur wenig bekannte Figur aus der Subkultur der Lower Eastside traut sich allen Ernstes an das Werk des Großmeisters der italienischen Filmmusik heran. New Yorker Underground trifft aufgeblasenen italienischen Edelkitsch. John Zorn wagte – und gewann.
Wuchtige Klavierakkorde, Kreischen, Pistolenschüsse, ein Cembalo, der Gesang einer Frauenstimme, Gitarren in der unbarmherzigen Sonne Mexikos, Pferde preschen im Galopp vorüber, scharfe Schnitte, abrupte Stimmungswechsel – so ungefähr hört sich das 7 1/2-mminütige Titelstück an, das John Zorn aus dem Soundtrack des Spaghetti-Westerns The Big Gundown destilliert. Bill Frisell übernimmt darin die Rolle des Gitarristen. Zwar nur eine Nebenrolle, aber immerhin in einer grandiosen, auf Kurzfilmformat zusammengeschnittenen Mischung aus Wild-West-Operette und musique concrete. Ennio Morricone als Drehbuchautor, John Zorn als Regisseur und – ganz wichtig! – als Cutter und die Musiker als Schauspieler, die in oft rasant wechselnde Rollen schlüpfen. Ein ähnliches Konzept hat John Zorn später immer wieder mal verfolgt. An einigen dieser Projekte war Bill Frisell dann in deutlich bedeutenderen Rollen beteiligt.
Zum Beispiel hier:
Naked City – dto. (1990)
John Zorn: as; Bill Frisell; g; Wayne Horwitz: kb; Fred Frith: b; Joey Baron: dr; Yamatsuka Eye: voc
Naked City – Radio (1993)
John Zorn: as; Bill Frisell; g; Wayne Horwitz: kb; Fred Frith: b; Joey Baron: dr; Yamatsuka Eye: voc
Auf dem Debut der „Supergroup“ Naked City treffen sich nicht nur fünf Musiker der „downtown scene“ und der japanische Vokalist der Noise Rock-Band The Boredoms, dessen Spezialität vor allem Kreischen in verschiedenen Tonlagen zu sein scheint. Hier treffen sich auch Ennio Morricone, Henri Mancini und Jerry Goldsmith mit Ornette Coleman und Death Metal. Das alles auf engstem Raum und in unterschiedlichen Konstellationen. Eine rasend schnelle Version des Batman-Themas wird durch Ennio Morricones vergleichsweise getragene Musik für The Sicilian Clan abgelöst und danach überschlagen sich die Ereignisse: Death Metal folgt übergangslos auf Jazz à la film noir, Ornette Colemans Lonely Woman wird zum reißenden Rockstück, und manchmal wird all dies und noch viel mehr in nur ein einziges Stück hineingepresst.
Präzise, messerscharf, mit scharfen Kontrasten zwischen hysterischem Wahnsinn und lieblichem Geklimper. Zur Kunst stilisierte Reizüberflutung? Rasend schnelles zapping durch die verschiedensten Kanäle? Die Freude daran, hier mal in fremde Rollen schlüpfen zu dürfen? Guilty pleasures? Jedenfalls kann man hier auch Bill Frisell in der Rolle des skrupllosen Bösewichts erleben, der seine Gitarre bis aufs Blut quält, dass sie kreischt und heult, um im nächsten Augenblick wieder der zarteste Mensch der Welt zu sein.
Radio folgt dem gleichen Konzept wie das Debut, im Unterschied dazu gibt es hier aber ausschließlich Eigenkompositionen von John Zorn. Bill Frisell ist hier noch präsenter als auf NCs Debut, zumal Radio deutlich mehr in Richtung metallischen Rock geht. Als Inspirationen nennt JZ im Booklet aber auch gleich einen ganzen Strauß von Musikern: Charles Mingus, Little Feat, Booker T., Anthony Braxton, Igor Stravinsky, Morton Feldman, Bernard Herman, Napalm Death, Liberace, Led Zeppelin und einige Dutzend andere mehr. Radio springt zwar weniger wild zwischen den Stilen hin und her, ist dafür aber dichter als die erste Platte von Naked City und entwickelt einen Spannungsbogen über die gesamte Laufzeit. Jedenfalls wird die Platte nach hinten hin immer hysterischer und endet in einem völlig verhackstückten Stück mit dem Titel American Psycho.
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)