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Das gehört eigentlich nicht zum deutschen Jazz, aber wenn wir hier auch über „Jazz in Deutschland“ diskutieren dürfen (was ich ja eh längst schon mache)…
Jazz at the Philharmonic tourte Anfang 1953 und machte auch in Deutschland halt. Im Jazzpodium vom April wurde darüber berichtet, mit ziemlich zwiespältigen Gefühlen was die Musik, besonders aber auch das rauhe Publikum betrifft: „Ein zart vorgetragenes Klaviersolo, ein gefühlvoll gesungenes Lied haben keine Chancen mehr, Beifall zu erhalten – aber das geschmakloseste Zeug hat noch Aussicht auf frenetischen Beifall, wenn es nur auf der Trompete – oder besser noch – auf dem Schlagzeug vorgetragen wird.“
Die alte Diskussion: JATP – Musik oder Zirkus? Die Wahrheit liegt dazwischen und auch die intensiven Stücke, die in einzelnen Momenten, einzelnen Soli, durchaus ins Geschmacklose abgleiten, enthalten oft tolle musikalische Momente. Schön ist dabei, dass gleich unterhalb des Textes von Werner Götze Flip Phillips abgebildet ist – es wird im kurzen Text unter dem Foto zwar auch seine Fähigkeit, „das kühlste Jazz-Auditorium zum Kochen“ zu bringen betont, aber ein abfälliges Wort sucht man vergebens. Mit dabei auf der 1953er Tour waren: Charlie Shavers (t – er neigte hie und da durchaus zum… sagen wir Überschwang), Willie Smith (as), Lester Young und Phillips (ts), Oscar Petersons Trio (mit Barney Kessel und Ray Brown) sowie die Drummer Gene Krupa und J.C. Heard. Götze fand „am eindrucksvollsten ohne Frage das Peterson-Trio und Melodien wie sein ‚Tenderly'“. Dizzy Gillespie kommt daneben sehr schlecht weg. Wenn ich’s richtig verstehe war er – wie auch das bejubelte Hans Koller Quintett – mit eigener Band im Rahmen der gleichen package unterwegs oder trat zumindest an einem der betreffenden Konzerte auch auf. (die Düsseldorfer Rheinhalle wird im Text zu Gillespie/Koller erwähnt, Götze berichtet über das Konzert im Deutschen Museum in München (und nur über JATP), während im Haupttext über JATP, Dizzy und Koller geschrieben wird aber kein Ort genannt wird.
Im Haupt-Text werden allerdings viele halbgare Klischees aufbereit über die „Wahrhaftigkeit der Aussage, die ihrem ganzen Wesen nach Allgemeingültigkeit hat“, so denn der Jazz, die Musik eine „Bindung zum menschlichen Dasein“ habe. Fehle diese im Jazz, „so wird die Musik zum reinen Effekt und verliert ihre stärksten Momente. Das Ergreifende und Fesselnde der Musik der amerikanischen Neger Louisianas am Beginn unseres Jahrhunderts lag in ihre Ausdrucksstärke.“ Da wird heftig romantisiert und es fehlt wohl auch einiges an – heute selbstverständlichem – Wissen. Der Text ist übrigens nur mit „mm“ unterzeichnet, am Anfang steht das „djf“-Kürzel, das wohl für die Deutsche Jazz-Föderation steht, einen Autoren mit den Initialen M.M. gibt’s im Impressum nicht, ich bin da ratlos… die Rubrik heisst „Man schreibt uns über die letzten Jazzkonzerte“, der Text über Dizzy/Koller ist gar nicht unterzeichnet, nur Götzes Glosse (unter dem Titel „Auch das muss einmal gesagt werden…“) ist klar gezeichnet.
Die negativen Berichte über Dizzy hebe ich mir für den künftigen Dizzy-Thread auf, da es noch keinen Thread und nur weniges über ihn zu lesen gibt hier und ich ihn nicht gleich mit übelsten Anmerkungen einführen möchte. Soviel nur: 1953 war in der Tat eins der schlechtesten Jahre in seiner ganzen Karriere, die Band war unangemessen, die Clownerien nahmen überhand. Aber selbst da gibt es tolle Momente, die andere Trompeter so leicht nicht hingezaubert hätten…
Im September schreibt Berendt dann übrigens bei den Plattenkritiken über eine Live-Aufnahme von Charlie Ventura, die im Rahmen eines „Just Jazz“-Konzertes statt fand: „Gene Normans Just-Jazz-Konzerte haben keinen so grossen Namen wie die Jazz-at-the-Philharmonic-Konzerte von Norman Granz, aber sie haben diesen eines voraus: sie spekulieren nicht ganz so bedenkenlos auf die schlechten Instinkte der Jazzfans.“ Einigermassen lustig, dass das ausgerechnet bei Ventura steht, der zwar schöne Musik gemacht hat, aber mit seinem „Bop for the People“-Konzept durchaus die Instinkte des Publikums ansprechen wollte (und dies auch auf nicht immer sonderlich subtile Art und Weise getan hat… was seiner Grösse nichts anhaben soll, ich mag ihn gerne!).
In der Mai-Ausgabe gibt es auf S. 8 ganz unten versteckt eine kleine Notiz, dass Howard Lucraft, Hollywood-Korrespondent des Melody Maker, im Juni „eine Gruppe bekannter Jazz-Solisten nach Europa“ bringen werde: Red Norvos Trio, zudem Shelly Manne, Art Pepper, Shorty Roger, Wardell Gray, Milt Bernhardt und June Christy. Am 5. Juni solle in Frankfurt der Auftakt zur Tour stattfinden.
June Christy zierte dann das Cover der Juni-Nummer, in der abgesehen von der Todesmeldung Djangos, den Plattenkritiken und einiger kurzer Notizen (Kenton gewährt seiner Band 14 Tage Urlaub und bezahlt allen die Reise heim und zurück nach Kalifornien – Dizzy verklagt einen unachtsamen Autofahrer, der ihn beinahe überfahren hätte, auf 25.000 Dollar – Ray Anthony stellt die Band um – Dan Dailey ist Favorit für die Hauptrolle des geplanten Biopics über Glenn Miller – Lionel Hampton hat, „ständig auf der Suche nach neuen show-Effekten“, mit Elsie Smith eine Tenorsaxophonistin in der Band, Monk West spielt den „electronic bass“ und Quincy Jones‘ Trompete töne „mittels eines Spezialdämpfers wie ein Saxophon“…) keine Neuigkeiten zu internationalem Jazz zu finden sind.
In der Juli-Nummer – nach Ella und June ist Sassy das dritte Cover-Girl in Folge, zu Ella gab’s einen kleinen Text, zu June einen Konzerthinweis, zu Sarah Vaughan gar nichts… korrigierte Nasen helfen eben, das Heft zu verkaufen – findet sich dann der kurze Text „Wo blieben Christy, Norvo & Co?“, in dem über Terminprobleme berichtet wird und darüber, dass Lucraft das Zustandekommen der Tournee inzwischen für ziemlich unwahrscheinlich halte. Im gleichen Text wird allerdings für August die Europa-Tournee von Stan Kenton angekündigt.
Die Notizen sind selten so witzig wie die obigen, hier gibt’s eine, die zur gerade im Posaunen-Thread geposteten gehört: „Die Zeiten für Jazz-Musiker sind schlecht. Sie arbeiten als Kellner, Taxi-Chauffeure, oder in anderen Berufen, wie z. B. Claude Jones, J. J. Johnson u.a.“
Ansonsten wird über Konzerte von Johnny Dankworth (Don Rendell wird besonders hervorgestrichen, wen wundert’s!) und Joe Turner berichtet, und zuhinterst gibt’s ein Inserat für Roger Gitarren mit einem hübschen Foto, das Barney Kessel und John Rediske gemeinsm zeigt, beide mit der Super Cut Away in der einen, Sonnenbrille, dünnem Oberlippenbärtchen, big grin und Glas in der andern Hand.
Stan Kenton war denn also das lang-ersehnte Konzert aus den USA, nachdem im Frühjahr JATP durch die Lande zog. Er ziert (nunja) den Titel der August-Nummer, wird herzlich willkommen geheissen, sein Photo und ein kurzer Text sind auf S. 3 zu finden und blättert man um ist fast wieder nur Kenton – links die ganzseitige Anzeige mit dem Angebot an die österreichischen Leser, am 16. September nach München ans Kenton-Konzert zu fahren (250 Schilling inkl. mittlerer, 290 Schilling inkl. besserer Konzertkarte, Arrangements für Nächtigung bzw. Halb- oder Vollpension ab 45 Schilling) und rechts nochmal „Stan Kenton kommt!“.
In den Jazz-News werden mögliche Touren von Mary Lou Williams und Jimmy McPartland mit Marian erwähnt. Die beiden hätten beim letzten Aufenthalt – unmittelbar nach dem Einmarsch der Amerikaner – in Aachen den Bunds fürs Leben (so lange sollte er nicht währen) geschlossen. Pearl Bailey und ihr Mann Louie Bellson befänden sich zudem auf Vergnügungsreise iin Europa.
Zudem wird über eine Aufnahmesession bei Blue Note berichtet (ermutlich aus gehöriger Distanz). Auffällig dabei ist, dass schon zum zweiten Mal (seit der April-Nummer, der ersten, die ich habe) nur „Francis Wolfe – früher Fanz Wolff vom Hot Club Berlin“ als Produzent erwähnt wird, der Name Lion nicht fällt (das erste Mal, dass das vorkam, war in einer Plattenkritik).
Zudem wird berichtet, dass Lil Armstrong nach Berlin reiste, wo sie an einer Jam Session teilnahm, aber anschliessend unverrichteter Dinge abreiste – „wegen der Ereignisse im Ost-Sektor“ sei das Konzert abgesagt worden. Welche Ereignisse mögen da gemeint sein? Dass neuerding Personalausweise der DDR ausgestellt wurden?
In der September-Nummer wird dann der Besuch Stan Kentons in einem kleinen Dossier ausgiebig gefeiert. Auf dem Titel ist Conte Condoli (sic), Solist der Band, Berendt stellte verschiedene Zitate zusammen („Stan Kenton und seine Musik im Urteil der Fachleute“), June Christys burschikoser Charme (confession corner: ich mochte immer ihre Stimme, ihren Look nicht so sehr) dient einmal mehr der Verzierung, die Musiker „Zoot“ Sims, Frank Rosolino und Erni (sic) Royal werden auf der dritten Seite ebenfalls abgebildet (wobei die Legenden zu Royal und Sims vertauscht sind… in der August-Nummer wurde schon gemeldet, dass Kenton mit Royal erstmals einen „Farbigen“ in seinem Orchester habe (Nachtrag zu oben: Der integrative Aspekt von JATP wird natürlich unterschlagen… das ist ja eigentlich bis heute üblich, nur der Zirkus wird lauthals beklagt, dass Granz ein Vorkämpfer gegen die Rassentrennung war, wird viel zu selten gewürdigt, lieber zerreisst man sich die Nase über seine „künstlerisch fragwürdigen“ Produktionen).
Zu Kenton gibt’s in der September-Nummer auch einen biographischen Artikel, der seinen Werdegang bis hin zum Innovations Orchestra (1950/51) verfolgt und ihm wie mir scheint ziemlich nahe kommt. Vermutlich stammt der Text von Berendt.
Zudem wird als Vorschau Lionel Hampton angekündigt (der durch Skandinavien touren soll, ebenso wie später im Jahr auch noch Count Basie).
Und hinten im Heft gibt’s noch eine Seite eye candy:
„Chris Connors [sic] war dazu ausersehen, die ausgedehnte Europa-Tournee des Orchesters Stan Kenton als Sängerin mitzumachen.
P O D I U M hatte für sie bereits das Titelblatt reserviert. Inzwischen ist June Christy mit von der Partie, die wir unseren Lesern auf dem Titelbild des Juni-Heftes vorgestellt haben.
Von den künstlerischen Qualitäten Chris Connor wissen wir nicht viel, da sie aber zumindest eine äusserst aparte Erscheinung sein dürfte, wollen wir ihr Bild unseren Lesern doch nicht vorenthalten.“
Hört hört… Macho-Getue allenthalben.
In seiner Kontrapunkt-Kolumne im September-Heft unternimmt Berendt den löblichen und notwendigen Versuch, Herrn Wiesengrunds klägliche Gedanken zum Jazz zu demontieren. Dazu vielleicht später mal mehr… da müsste man mal etwas tiefer nachlesen.
Zu Stan Kenton folgten dann in der Oktober-Nummer weitere Berichte: ein Auszug aus einem SWF-Interview, das Berendt geführt hat, sowie ein Text von Hans Dieter Klee.
Dann ging es recht schnell: Lionel Hampton ging nicht nur nach Skandinavien sonder beehrte auch andere europäische Gebiete, trat in Hamburg, Düsseldorf, München, Frankfurt und Berlin auf – Aufnahmen gibt es aus Basel (zwei CDs bei TCB) und in Paris fanden diverse Sessions statt, auch welche ohne den Leader, obwohl dieser seinen Leuten genau dies untersagt hatte (aber hey, die Entlassung hat sich gelohnt… wir hätten sonst nicht die Vogue-Aufnahmen von Clifford Brown!).
Im November-Heft berichtet Berendt dann über eine grossartige, vierstündige Jam Session von Hampton mit Clifford Brown, G. G. (Gigi) Gryce, Al Hayes (Hayse) sowie den wichtigsten Jazzern der Edelhagen-Band, die am 5. Oktober in Baden-Baden stattfand, als die Hampton-Band ihre Deutschland-Konzerte beendet und vor der Weiterreise nach Frankreich waren. Anscheinend nahm Berendt die ganze Sache auf und erhielt auch die Erlaubnis, sie am Radio auszustrahlen – praktischerweise sind im Jazz Podium ja stets auch Hinweise auf Jazz-Sendungen zu finden, im SWF lief also am 1. Dezember 1953 um 23:30 eine halbstündige Sendung mit Ausschnitten dieser Jam Session – würd ich verdammt gerne hören, das!
Über Clifford Brown heisst es:
Er war „the end“. Wir hatten ihn in Frankfurt gehört. Niemand erschien dort bemerkenswert. Ausser Hampton selbst. Aber jetzt spielte Brownie wie ein Nachwtwandler. „Man kann das nicht fassen“, sagte einer unserer Edelhagen All Stars. „Du musst dein Leben ändern, wenn du das hörst“, ein anderer. Wir fielen ununterbrochen: von nun an, den ganzen Abend lang, in einen Abgrund nach dem anderen. Und jeder war tiefer als der vorhergehende. Aber jeder war voll mit Ideen. Ideen, in denen alles anklang: gespenstisches und engelhaftes, aber nur ganz wenig menschliches.
Interessant eine kleine Meldung aus New York: das George Wallington Quartett stelle sich als „eine der grössten musikalischen Überraschungen dar“ – interessant, weil Ernie Henry am Altsax mitwirkte. Das zu hören, dafür gäbe ich ein Arm und ein Bein!
Im Frankfurter Jazz-Domicile fand zudem eine Jam-Session mit Fagott und Waldhorn statt: Fred Dutton, der bei Brubeck Bass und gelegentlich Fagott gespielt hat, und David Amram, leiteten ihre Dienstzeit in Deutschland ab. Dutton habe gemeint, die neue Jutta Hipp Combo mit Emil Mangelsdorff und Joki Freund (über die im November-Heft auch berichtet wird), sei den besten modernen Musikern der USA ebenbürtig. Es war aber nicht Emil sondern Albert Mangelsdorff, der bei der Jam Session auftauchte.
Zudem im November Heft ein kleiner Text, der eine weitere damalige Realität aufzeigt: „Halerm Band in Europa ohne Engegement“ [sic]. Die Gruppe von Freddy Mitchell, die in italien für eine Tour gebucht wurde, eine „Negerband aus Harlem, weist folgende Besetzung auf: Benny Bailey […] tp; Leon Comeggs [sic] (tb); […] Elmer Williams (ts)“ – die anderen Musiker sind mir auch nicht vertraut, aber hey… Mitchell hatte damals „einige grössere Anzahl Platten mit eigener Ban für die Marken Derby, Mercury und Brunswick“ auf dem Markt, hatte mit Beny Carter, Fletcher Henderson oder Sy Oliver gespielt. Bailey war natürlich bei Hampton dabei (vermutlich blieb er grad in Europa?) und Comegys hatte in Dizzys Bop Big Band gesessen, 1953 mit Max Roach aufgenommen und gehörte 1954 auch zu Hamptons Band (zu hören z.B. auf der Apollo-LP) und später spielte er mit Howard McGhees Big Band. Elmer Williams hatte mit Basie, Chick Webb, Armstrong oder Fletcher Henderson gespielt… und solche Leute sassen ohne Engagement (und möglicherweise pleite und ohne Möglichkeit, heimzureisen – das ging ja später auch Quincy Jones‘ Big Band noch so) in Mailand herum… immerhin wird eine Kontaktadresse gleich mitgeliefert.
Im Dezember-Heft gibt’s dann zuvorderst einen Ausblick auf kommende Deutschland-Konzerte. Angekündigt sind wieer JTP, zudem das Orchester von Harry James, das Modern Jazz Quartet, Count Basie, Woody Herman und Louis Jordan.
In der Bild-Unterschrift zu James steht: „Auch wenn Harry James heute weit davon entfernt ist Jazz zu spielen, hat er doch wegen seines technisch blendenden Spiels noch viele Anhänger.“ – Es fällt auf, dass Jazz auf ähnliche Weise immer wieder abgegrenzt wird, bzw. dass von gewissen Leuten gesagt wird, sie spielen „recht viel Jazz“ oder sie hätten „viel Jazz im Programm“. Die Abgrenzung verläuft wohl gegen Show-Bands, Tanz-Bands, was immer, wie sie James etwa leitete – was wiederum nicht heissen muss, dass bei James kein Raum für Jazz-Solisten oder gelegentliche Jazz-Soli von diesen war. Zu Erwin Lehn heisst es auch mal (im Bericht zur „Woche der leichten Musik“ des SDR in der November-Nummer), dass „seine Solisten auch in freier Form aus sich selbst schöpfen können, warum zeigen sie das nur unter sich?“ Es wird also bedauert, dass Bands mit tollen Leuten diesen kaum Raum gewähren, um auch mal persönliches in die Musik einzubringen… das erinnert mich grad noch an etwas: Max Greger wird mehrmals sehr lobend erwähnt – im November-Heft heisst es, „Greger scheint auf [Lionel] Hampton grossen Eindruck gemacht zu haben.“ (Unmittelbar davor steht, dass Kenton – „auch geistig ganz von seiner Musik erfüllt, beherrscht und völlig ublasiert“ – unmittelbar vor seinem Konzert in München eine „interessante Pressenkonferenz“ gegeben hätte. „Hampton legte sich nach seiner Ankunft schlafen; die farbigen Musiker wussten offenbar nichts über ihre Musik zu sagen. Kenton hatte ein Konzertpublikum, Hamptons Publikum tobte.“ Nunja… Und gleich noch eine hübsche Abschweifung: an der „Woche der leichten Musik“ des Jahres 1966 trat die Cecil Taylor Unit (mit Jimmy Lyons, Alan Silva und Andrew Cyrille) im Sendesaal der hehren Villa Berg zu Stuttgart auf… leichte Musik, ha! – (hier das zugehörige Jazzpodium-Cover – das Konzert wurde mitgeschnitten, mehrfach ausgestrahlt und ist im Umlauf – fantastisch natürlich.)
Kenton vertritt – passenderweise – „die Ansicht, dass man in Europa seiner Art Jazz zu spielen mehr Sympathien entgegenbringt als dem Jazz der Neger. Die musikalische Substanz des alten Neger-Jazz genüge den Europäern nicht, deswegen bevorzuge man die modernen Jazzformen und sei besonders auch Lennie Tristano und Lee Konitz gegenüber aufgeschlossen“. Kenton gefiel es also in Deutschland diesen Aussagen gemäss mindestens so gut, wie derjenige, der dies schrieb, es sich erwünschte… dass die Tendenz zum „Cool“ geht ist nicht weiter verwunderlich, allerdings werden auch Monk und Miles gleichermassen dem „Cool“ wie dem Bop zugerechnet, so gesehen ist das Bild etwas – etwas! – weniger schief. Es fehlen allerdings abgesehen vom tollen Text über Monk, den Berendt in der April-Nummer geschrieben hat, auch vertiefende Texte über schwarze Jazzmusiker ziemlich (es gibt ein paar Berichte über Blue Note Platten-Sessions mit Jimmy Hamilton, Art Hodes etc, aber das ist ja so wenig der damals aktuelle Jazz wie es die Musik von Lionel Hamptons Band war).
Es wird überdies gemeldet, Down Beat habe beschlossen, bei den Polls künftig – der besseren Klarheit zu Liebe – sowohl nach dem besten Tanz-Orchester und nach der besten Jazz-Big Band zu fragen.
Dieter Krause berichte über die Old-Time-Jazz-Aktivitäten in Paris, u.a. im Trois Mailletz, wo Peanuts Holland als Gast mit französischen Musikern auftrat. Er hörte zudem Bill Coleman (mit Bill Tamper, Benny Waters, Eddie de Haas, Wallace Bishop u.a.). Nicht nur ist das Quartier Latin „Zentrum des europäischen Jazzlebens“ sondern das Pariser Publikum ist viel zivilisierter (es „wurde weger gepfiffen noch getrampelt, an Knarren, Hörner und andere Lärminstrumente war nicht zu denken“) bei gleichzeitig grosser Begeisterung, kennt sich viel besser aus („nicht etwa ‚Rag Mop‘ oder ‚Trumpet Blues'“ würden gewünscht „sondern echte Jazzthemen“) und im Gegensatz zu Deutschland bilden die Männer in Paris keine „erdrückende Mehrheit“. In den Juke-Boxen sind zudem nicht „die in den USA populäre[n] Schlager“ zu finden sondern „Sidney Bechet, Claude Luter, Louis Armstrong und Earl Bostic nehmen oft den grössten Teil des Programms ein“.
Soweit das kleine Sittenbild…
Und als Nachtrag: von 1954 kenne ich nur ein Heft, Nr. 7/III vom Juli (in dem zudem S.9/10 fehlen). Es gibt darin v.a. einen Bericht über den Pariser Salon de Jazz, bei dem Albert Nicholas und Jonah Jones die „Alten“ vertraten (Bechet musste krankheitsbedingt absagen), während der moderne Jazz von Thelonious Monk und Gerry Mulligan vetreten wurde. Die Konzerte, die letzterer mit seinem Quartett mit Bob Brookmeyer in der Salle Pleyel spielte, sind von Vogue veröffentlicht worden und in der Tat äusserst hörenswert. Vogue lockte Monk damals ebenfalls ins Studio und entlockte ihm die wohl schönste seiner Solo-Aufnahmen überhaupt. Zudem sind Mary Lou Williams und Martial Solal aufgetreten.
Das mag zusammen mit obigem Bericht über die Trad-Szene im Quartier Latin verdeutlichen, dass damals in Paris sehr viel mehr los war als in Deutschland. Dass immer wieder die Combos von Hans Koller und Jutta Hipp erwähnt werden (in fast jeder Nummer, oft mit Bild) zeigt auch, dass damals in Sachen moderner Jazz noch nicht viel lief.
Ein letztes: Im (Leser-)Forum der Juli-Nummer findet sich unter der Überschrift „Jazz in der DDR“ eine Reaktion auf eine vorangegangene Zuschrift eines Reginald Rudorf aus Leipzig, die sich wehrt, weil Rudorf geschrieben hätte, „wer sich dem Jazz verpflichtet fühle, dürfe keine Schranken errichten“ und die rhetorische Frage stellt, wer denn da die Schranken errichte. Dass Rudorf sich als Leser des Jazz-Podiums bezeichnet, weckt zudem den Argwohn, „dass er eine Sondergenehmigung des DDR-Kultusministeriums“ habe – das dürfte in der Tat der Fall gewesen sein (klick).
Es folgt dann ein Bericht über eine Veranstaltung, bei der selbiger Rudorf zum Thema „Um Jazz und eine neue Tanzmusik“ in Halle gesprochen habe, die damit beworben wurde, dass Beispiele von Armstrong und Ellington gespielt würden. Die Türen wurden verschlossen, bevor der Saal voll war, Volkspolizisten stifteten unter den draussen gebliebenen Unruhe, um Vorwände für Verhaftungen zu kriegen, immer mehr SED-Funktionäre seien aufgetaucht, in der Hoffnung, Namen der gefährlichen Elemente aufzuschnappen etc. etc. Fazit: Armstrong als Rattenfänger für die SED.
Rudorf scheint ja gemäss verlinkten dem Wiki-Artikel wenige Jahre später selbst in Ungnade gefallen zu sein. 2008 verstorben wird er bei Wiki immerhin (u.a.) als Dissident geführt.
Welche Version eher stimmt, jene im Jazz Podium oder jene bei Wiki (das Jazz Podium legt ja immerhin nahe, dass Rudorf Teil des ganzen SED-Planes hätte gewesen sein können) weiss ich natürlich nicht, von Rudorf (der später den Mediendienst rundy gründete, den heute sein Sohn leitet) hatte ich noch nie gehört.
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