Re: blind fold test #11: vorgarten

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vorgarten

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#1
ricardo villalobos, max loderbauer: REBIRD (motian / villalobos / loderbauer)
ricardo villalobos (electronics), max loderbauer (electronics)
aus RE:ECM, ecm 2011, rec. 2009 berlin
source: BIRDSONG (motian), aus: rava/ bollani / motian: TATI, ecm 2005

ricardo villalobos darf man wohl als originellsten dj und elektronikmusiker der ‚nuller jahre‘ bezeichnen, dessen reduktion auf sogenannten ‚minimal techno‘ behelfsmäßig überdeckt, dass das, was er macht, restgeheimnisvoll und ziemlich unerklärlich ist und bleibt. auffällig war schon immer, dass in seinen clubstücken akustische elemente auf eine art und weise vorkommen, dass sie sich tatsächlich akustisch anhören und eine rätselhafte räumlichkeit innerhalb der musik behaupten. überhaupt funktionieren villalobos‘ soundsysteme vor allem rhythmisch und räumlich – was vielleicht ein kleiner schlüssel zu seinem künstlerischen interesse ist.
der weg zu ECM war naheliegend und seit langem vorhersehbar, das schließlich 2010 angekündigte remix-album wurde sehnlichst erwartet. was dann aber entstand, zusammen mit dem eher insidern bekannten max loderbauer, verwirrt viele. komplett club-untauglich, kaum jazzig, mehr von den „new series“ als von den klassischen jazzaufnahmen ausgehend und als soundlandschaften schwer zu lesen, präsentierte sich die doppel-cd RE:ECM, die es noch nicht mal auf vinyl gab.
im booklet erklären die beiden elektronikmusiker ihr konzept: keine aufsplittung der originale in einzelspuren, genaue auswahl und looping einzelner passagen (auch von pausen, lücken), verbindung mit einem komplexen elektronischen apparat, der vom original in einer weise gesteuert wird und auf ihn reagiert, dass schließlich kaum einfluss genommen werden kann. das mixing zweier musiker wird zur spontanen improvisation, aufgenommen wird komplett, jeder neue versuchsaufbau bedeutet den abschluss des vorherigen. die aufnahme ist entweder brauchbar oder muss noch einmal improvisiert werden.
grundlage des stücks REBIRD ist der BIRDSONG von paul motian von der trioaufname mit bollani und rava, TATI. ein einfaches pianomotiv nach schon identifiziertem vorbild, dazu eine sensible besenverstärkung durch den drummer, rava pausiert. villalobos & loderbauer hüllen das in einen weiteren, elektronischen, raum ein und lassen das motiansche becken dazu durchlaufen, eine referenz an dessen sound und seine oft unberechenbare begleitung gleichermaßen. für mich eine schöne hommage an motian und in seiner vergleichbaren einfachheit ein sehr gelungenes beispiel für das spezielle ECM-remix-projekt, über das die beiden musiker hier ein bisschen erzählen.

#2
ralph peterson: FREE FOR ALL (wayne shorter)
graham haynes (co), ku-umba frank lacy (tb), craig handy (ts), steve wilson (as), michele rosewoman (p), phil bowler (b), ralph peterson (dm).
aus ART, blue note/ somethin’ else records 1994, rec.1992 nyc

trommelwirbel, pointierte stützakkorde, ein durchgepeitschtes thema mit pseudoleichtem swing-b-teil. erstes solo, posaune, mit curtis-fuller-zitaten aus dem original, dann altsax, eher strukturalistisch, mit einer langsamen, konsequenten steigerung, dann grandioser kornett-einstieg mit hancockschem, aufgelöstem klavier und einem auf einem ton treibenden bass, dann ein schnell ins überblasen fallendes tenorsax, mit den bläserkürzeln zu weiteren höhepunkten getrieben, bis es resigniert einfällt, schließlich ein impressionistisches, aus dm rhythmus fallendes klavier, dass sich dem powerplay verweigert, noch mal thema, im finalen beckenschlag zum schweigen gebracht.

das kann man eine hommage nennen. ART heißt das album, kunstvoll soll das natürlich sein, aber auch an ART blakey erinnern, den powerdrummer hinter den unterschiedlichen, aber immer zur ersten garde gehörenden boten des jazz und petersons langjährigem mentor. nur ein stück aus dem blakey-repertoire wird gegeben, dieses hier, FREE FOR ALL. für peterson kommt das aus der „most exciting studio record ever recorded, period.“ die neuerfindung hier gelingt, weil peterson ein ensemble aus musikern zusammengestellt hat, die sich zur damaligen traditionalistengarde und ihres fortlaufenden dauer-hommage-konzepts deutlich abgrenzt. so toll haynes, lacy, handy, rosewoman und wilson hier sind, eine wirkliche „neue garde“ sind sie nicht geworden – eher vielseitige spieler mit inside- und outside-erfahrungen, aus denen keine richtigen stars wurden. ich mag die (mit ausnahme von wilson) alle sehr gerne und finde es eher ein problem ihrer zeit und nicht ihres talents oder ihrer originalität, dass sie nicht bekannter geworden sind. insofern ist dieses stück für mich auch ein hinweis auf die ungerechtigkeit des marktes, der solchen leuten mal entfatungsraum gib und sie kurz darauf wieder fallen lässt. das trifft mit einschränkungen wohl auch auf den leader hier zu, den viele mal für den talentiertesten der 80er- und 90er-jahre-drummer gehalten haben. lacy und handy sind hier übrigens nur gäste, der rest des schönen albums ist in quintett-besetzung eingespielt worden.

#3
kevin eubanks: PASSING (kevin eubanks)
kent jordan (fl), robin eubanks (tb), kevin eubanks (g), dave holland (b), gene jackson (dm).
aus: SPIRITALK 2 – REVELATIONS, blue note 1995, rec. 1994 nyc.

noch so eine alternative garde der 90er. kevin und robin eubanks, die neffen von ray bryant, sind vielleicht doch sowas wie stars geworden, dave holland war sowieso immer ein roter faden durch die traditionalisten/modernisten-bewegungen dieser zeit. kevin verdankt seine popularität sicherlich seiner bandleaderschaft in der jay-leno-nightshow, die er bis 2010 innehatte. vielleicht auch seiner wahl zum „wolrd‘s sexiest vegetarian“ der organisation PETA. als gitarrist bewegt er sich gerne in etwas schwierigen geschmacksfeldern (sein erstes label war grp), seine technik ist in mehrerer hinsicht überragend, ohne angeberisch zu sein. wie nur wenige nutzt er alle finger der rechten hand, nicht nur den daumen – auf ein plektron verzichtet er ganz. schnelligkeit ist die folge, aber auch ein originelles wechselsspiel zwischen akkorden und einzeltönen, die bei ihm viel organischer ineinander gesetzt sind als bei anderen. aber auch die akkorde sind von außergewöhnlicher komplexität und ambivalenz (sowas kann man eigentlich gar nicht greifen) – an mitspieler macht er dadurch sehr offene angebote, was in den freieren konzepten bei dave holland anfang der 90er sehr gut funktionierte. nach der zeit in hollands quartett (beide waren zu verschiedenen zeiten sehr gerne bei sam rivers kollektivimprovisationen dabei) versuchte eubanks, dessen warme grooves, offene settings mit m-base und fusion zu verbinden und spielte erstmals konsequent akustische gitarre. bei blue note entstanden drei alben, TURNING POINT, SPIRIT TALK und SPIRITALK 2 – REVELATIONS, letztere mit der merkwürdigen instrumentierung gitarre-posaune-flöte. das ist sicherlich nicht jedermanns sache, war aber in den 90ern ein interessantes konzept und wohl auch nicht ganz unerfolgreich. der flächige, eher schwebende, fast sunny-murray-hafte schlagzeugbeitrag kommt von gene jackson, damals für kurze zeit hollands bevorzugter drummer, heute eher so zweite garde, was ich nicht ganz verstehe.

#4
joseph jarman: UNICORN IN SHADOWS (joseph jarman)
joseph jarman (ts)
aus: INHERITANCE, baybridge 1984, rec. 1983 nyc

klar, roscoe mitchell ist der kühle meister des art ensembles of chicago, aber aus irgendeinem grund war mir joseph jarman immer näher, in seiner durchgeknalltheit, esoterik und theatralik. seit langem verfolge ich seine spuren außerhalb des AEC, da ist allerdings viel halbgares dabei und selten wird das wirklich gut und ernsthaft produziert. die ziemlich mainstreamige INHERITANCE ist da anders, obwohl auch sie nur eine kleine jarman-facette zeigt (was wiederum jarman-typisch ist). was liegt also näher als einfach jarman solo zu präsentieren, einen kleinen gedankengang, einen kurzen, schattigen ritt auf dem einhorn, mit dem schönen, etwas dünnen ton und der verqueeren eigentlich-dramaturgie. und ich suche weiter nach der einen, großen, genialen jarman-platte, die es bestimmt nicht gibt.
auf dem rest des albums spielen eine junge geri allen, don moye und fred hopkins.

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