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BgigliIch höre es, neben Grateful Deads Spring 1990, zur Zeit sehr häufig wie ich alle Platten seit Time Out Of Mind sehr häufig höre und gehört habe, da sie so ziemlich zu meinen Lieblingen gehören. Ob ich sie immer noch häufig hören werde, wenn er mal nicht mehr ist, wage ich mal zu bejahen. Gerade seine scheinbar distanzierte, objektivierende Sichtweise ist das, was mich anspricht. Dylan kommentiert nicht, sondern erzählt nur wie otis das mal an anderer Stelle gesagt hat. Das hat bei ihm selten mit Realität, umso häufiger aber mit dramaturgischer Wahrheit im Sinne shakespearscher Fähigkeiten zu tun. Im Titelstück vermengt er Realität mit Fiktion zu einem unentwirrbaren Gemisch, das dem Hörer eine andere, höhere(?) dramatische Wahrheit vermittelt ohne den Zuhörer mit einem irgendwie hörbaren Kommentar zu manipulieren. Diese Fähigkeit hatte er schon immer, und sie höre ich immer noch, manchmal sogar gerade durch die völlig „kaputte“ Stimme mehr noch als früher.
Ich werde natürlich nicht an deinen Lieblingen kratzen und ich bin mir ganz sicher, dass eine andere Meinung (in diesem Fall meine zu TEMPEST) nichts an deiner Begeisterung ändert – und dies auch gar nicht soll. Interessant finde ich, dass wir Dylans dramaturgisch poetische Kraft ähnlich, die Distanziertheit in seinen Songs aber unterschiedlich wahrnehmen.
Ich habe es gerne, wenn Künster (die den Schwerpunkt auf ihre Texte legen) so deutlich wie möglich Stellung beziehen und es macht für mich einen Unterschied, ob man in Songs direkt auf (z.B. gesellschaftliche oder politische) Themen eingeht oder sie vorsichtiger, eher abstrakt und großzügig interpretierbar anlegt. Im letztgenannten Fall erreicht der Künstler ein größeres Publikum und auch breitere allgemeine Aufmerksamkeit (was ja nicht negativ ist), muss aber dafür in Kauf nehmen, dass das gewählte Thema unter Umständen anders als beabsichtigt verstanden, interpretiert oder verwendet wird. Im anderen Fall (der direkten Stellungnahme) ist der Künstler wesentlich angreifbarer und erreicht ein kleineres aber dafür empfänglicheres Publikum. Wenn erzählte Geschichten ihren Zusammenhang mit den ihnen zugrunde liegenden realen Vorkommnissen verlieren, geht mit der Zeit auch ihr besonderer Charakter verloren. Mit anderen Worten: Dylan gefällt mir als Orakel-Onkel am wenigsten.
Was den Titelsong des neuen Albums angeht, habe ich das wiederkehrende Problem mit Dylans überlangen Songs. Mir ist bewusst, dass manche davon dieses Ausmaßes bedürfen, weil die Ausführlichkeit der Story es so verlangt, aber ich schaue unwillkürlich auf die Uhr. Nicht dass ich die Geschichte nicht zu Ende erzählt bekommen haben möchte, sondern weil Moritatensänger Dylans spezielle Vortragsart dazu herausfordert.
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