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SPON ist sehr zufrieden:
spiegel.de
71 Jahre, 34 Alben, zu viele Exegeten, zu viel Mythos. Ja, ich weiß, das ist nur eine aktualisierte Version meines Einstiegs von 2009, aber ganz ehrlich: Es hat sich seitdem nicht viel verändert. Vor allem nicht bei Bob Dylan, der sich unlängst bei seinem Gastspiel in Berlin recht rüstig gab und allem Raunen, „Tempest“ könnte sein letztes Album sein, Hohn sprach. Zeitungsseite um Zeitungsseite wurde schon wieder vollgeschrieben über dieses gelungene, sehr entspannte Spätwerk, als wenn nicht auch die letzten drei Spätwerke schon sehr entspannt (gelungen sowieso) gewesen wären. Aber ach, die biblischen Bilder! (Gab es die nicht schon auf „Slow Train Coming“ und „Saved“?), die Shakespeare-Hinweise! (War der nicht schon 1966 zusammen mit Dylan „stuck inside of Mobile with the Memphis Blues“?)Ein religiöses Album habe er machen wollen, sagte Dylan dem US-„Rolling Stone“, aber ihm habe die Zeit gefehlt. Der Fuchs! Religiöser als auf „Tempest“ geht es kaum, und mit über einer Stunde Spielzeit gehört es zu den längsten Dylan-Alben aller Zeiten. Keine Zeit, pah! Die Kargheit des Plattencovers (keine Texte, keine Liner Notes) spottet zudem den geschraubten Ausarbeitungen der Dylanologen, als wollte er sagen: Hier gibt’s doch nichts zu Erklären, hört doch einfach mal zu, verdammt! Lasst Euch auf die Musik ein! Die ist es nämlich, die von Dylan auf „Tempest“ noch einmal mit aller Inbrunst seiner geschundenen Stimme zelebriert wird, im launigen Depressions-Swing „Duquesne Whistle“ ebenso wie im muskulösen Stones-Zitat „Pay In Blood“ oder im „Mannish Boy“-Riff von „Early Roman Kings“.
Dylan wandert durch die Stile, die ihm lieb und eigen sind, wie durch ein Ankleidezimmer, probiert hier mal einen Dandy-Hut auf, hier mal einen „Shark-skin suit/ Bow-ties and buttons/ Hi-top boots“. Trotz allem Feuilleton-Ballast und Literaturnobelpreis-Gedöns, das auf ihn und sein Werk projiziert wird, ist Dylan am liebsten nur der Hobo, der dem Pfeifen des Güterzugs folgt, der langsam heranrollt und in die Ferne weist.
Da sitzt er dann mit seiner Gitarre im Stroh, lässt die Beine hinausbaumeln und singt uns, wie im knapp 14 Minuten langen, schön dahinwalzernden Titelstück, in 45 Versen vom Untergang der „Titanic“, der natürlich für die Apokalypse der ganzen Welt steht. Und draußen zieht die Prärie vorbei: Nashville, Memphis, Austin vielleicht. Und in einer dieser im Abendrot leuchtenden „Scarlet Towns“ steigt er ab und streunt durch die „Long Narrow Roads“ wie ein Gangster, ein Pimp mit zwielichtigem Gefolge, wie im Videoclip zu „Duquesne Whistle“, ein verschlagenes Lächeln im Gesicht: „I pay in blood/ But not my own“, singt er und weiß genau um seine Unsterblichkeit: „The more I die/ The more I live“. Umso rührender, dass „Tempest“ mit einer balladesken Hommage an John Lennon endet, zu Lebzeiten nicht unbedingt Dylans größter Fan war: „Roll on, John“.
Ab auf die Straße, ob nun zur Erlösung oder Verdammnis, who cares! Noch schnell seinen Frieden machen und den Hut etwas kecker nach hinten tippen, bevor der große Sturm uns alle hinwegfegt. Roll on, Bob.
(8.0) Andreas Borcholte
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