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vorgartenmir war steven bernstein vor diesem bft überhaupt kein begriff, auch die beiden späteren A&M-alben von sun ra (BLUE DELIGHT und PURPLE NIGHT) musste ich erst nachholen, die lounge lizards habe ich nie gehört (die waren ein bisschen früher populär als ich mit dem jazz anfing – und irgendwie gibt’s keinen grund, das nachzuholen) und das debüpt des exploding star orchestras ist ausgerechnet das album, das ich nicht von ihnen kannte. aber all diese entdeckungen lohnen sich – mit ausnahme der lizards vielleicht, mit deren ansatz – auch wenn ich verstehe, warum man mal sowas gemacht hat – ich offensichtlich probleme habe …
Von den späten Sun Ra-Alben kenne ich außer Blue Delight und Purple Night außerdem noch Somewhere Else (http://www.allmusic.com/album/somewhere-else-r190377) – man vergleiche den Titel mit dem des Exploding Star Albums! – und Reflections In Blue (http://www.allmusic.com/album/reflections-in-blue-r148352). Erstere ist etwas ausgetickt, letztere hingegen recht straighter Swing. Fletcher Henderson und früher Ellington sind hier die Vorbilder. Leider habe ich die Musik auf Reflections früher überhaupt nicht kapiert und bloß für bieder und altmodisch gehalten und die Platte ist dann im 2nd Hand-Laden gelandet. Im Nachhinein trauere ich ihr nach.
vorgarteneigenartigerweise finde ich das exloding star orchestra dagegen etwas neues – ich habe den eindruck, dass mazurek eher von der elektronischen musik her kommt, gar nicht mal so sehr vom postrock oder free jazz, zu denen es ja auch bezüge gibt. aber die vielen layer, der dunkle puls darunter, die flächigen sounds, die – obwohl sie meist akustisch hergestellt werden – wie ineinandergemixt erscheinen, lassen mich immer eher an clubs denken als an lofts oder indieschuppen.
Ich vermute es ist ein sehr heterogenes Milieu, aus dem er stammt oder in das er hineingeraten ist. Man nehme nur mal das Label Thrill Jockey, auf dem er sehr viel veröffentlicht hat: Die veröffentlichen parallel Jazz, Rock der etwas experimentelleren Art und Elektronica. Wenn Thrill Jockey draufsteht ist das aber in vielen Fällen fast schon so was wie ein Gütesiegel. Und beim ESO spielen ja auch ein paar Musiker, die auch in einigen anderen Bands spielen. John McEntire, der hier Marimba (!) spielt, ist Drummer bei der Rockband The Sea And Cake und besitzt ein Studio, bei dem sich Musiker der verschiedensten Schattierungen die Klinke in die Hand geben.
gypsy tail windIch verstehe Deinen Einwand nicht so richtig; was meinst Du mit „das postmoderne Spielen“? Das Amalgam?
Ich mag die Lizards, gerade die späten (Live in Berlin Vols. 1 & 2, Queen of All Ears) sehr gerne, und würde jetzt einfach mal behaupten, dass das Eigene, das „irgendwas“, das dazukommen muss, bei ihnen der Sound der ganzen Musik ist. Ich kenne jedenfalls nichts vergleichbares!
vorgartendas postmoderne läge für mich darin, einfach zu glauben, wenn man veratzstücke zusammenblendet, hätte man schon etwas kreatives, neues geschaffen. was man durchaus so sehen kann, denn so kommt ja z.b. der sound zustande, den du das entscheidende bei den lizards findest. ich finde es heute etwas verstaubt, wie auch 80er-jahre-architektur oder im pop sowas wie die talking heads, wobei ich mich da auch an einer heiligen kuh von friedrich vergreife.
damals war das frisch und befreiend, nach all dem hippie-zeug. jetzt steht man wieder unbefreit davor…
Ich kenne von den Lizards außer Queen noch das Debut von Anfang der 80er und Big Heart/Live in Tokyo von 86. Auch die sind eigentlich sehr gut. Und so beliebig postmodern im Sinne von anything goes sind sie gar nicht. Auf dem Debut gibt es einen sehr gezielten Rückgriff auf eine nervöse Bebop-Ästhetik, die die Lizards mit etwas – ja, ebenfalls nervösem – New Wave versetzen. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie da etwas zusammenfügen, das sowieso schon Parallelen aufweist. Das funktioniert eigentlich sehr gut und wirkt für meine Ohren auch nicht beliebig. Produzent war übrigens Teo Macero und Arto Lindsay spielt darauf eine Gitarre, die „atonal“ zu nennen noch stark untertrieben ist.
Der Vergleich mit der Postmoderne in der Architektur ist ein wenig weit hergeholt, aber ich verstehe was Du meinst. Das ist etwas komplizierter gelagert und hat auch deswegen eigenartige Blüten getrieben, weil da oft einfach Äußerlichkeiten kopiert wurden, ohne dass die Zusammenhänge verstanden wurden. Edit: Es war aber in den 80ern wohl auch sehr schwierig, überhaupt mit traditionellen Formen umzugehen, wenn in den 30 Jahren zuvor nichts ausgelassen wurde um diese traditionelle Formensprache sowohl real als auch als das Bewusstsein und Verständnis dafür in den Köpfen zu eliminieren. Mit einem oberflächlichem Formalismus gelingt es aber eben nicht, den Dingen Geist einzuhauchen will. Aber das ist halt auch ein sehr langer Lernprozess.
Die Talking Heads repräsentieren für mich persönlich vieles von dem, was in einigen Bereichen der Popmusik so von 1977 bis 1983 passiert ist. Wie gesagt: sehr persönlich gefärbt. Aber das ist eine andere Baustelle.
gypsy tail windDie Exploding Star CD ist übrigens unterwegs zu mir – danke Dir, Friedrich! Wollte mich dieser Gruppe schon länger mal annehmen und der Track hier hat jetzt den Ausschlag gegeben!
Gern geschehen! Ich denke Du wirst nicht enttäuscht sein, wenngleich das Album noch ganz andere Facetten bietet, als Du bisher hören konntest.
vorgartenich habe mir direkt sun ra bestellt – und die CHERRY muss ich auch haben (das gehört dann schon zu auflösung #3 – aber wer weiß, wann berlinale-junkie friedrich dazu kommt). bei steven bernstein überlege ich noch.
gypsy tail windVon Bernstein rate ich (und das ist wohl auch ganz in Friedrichs Sinne) zum Debut! Das ist fantastisch!
Da sind wir uns wohl einig: Das Steven Bernstein Debut Diaspora Soul ist wirklich fantastisch! Schreibe ich demnächst gerne noch etwas mehr zu. Oder willst Du? Diese Platte ist übrigens wirklich ein Amalgam, das Bernstein auch ganz bewusst, tongue-in-cheek und augenzwinkernd zusammenquirlt. „Who loves a cha-cha more than …?“
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)