Re: bft 6 – gypsy tail wind

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gypsy-tail-wind
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ferryWirklich eine sehr interessante Sache, diese Kollektivimprovisationen. Die Musiker müssen dann ja sehr genau auf die anderen achten, damit das ganze nicht ausartet. Im New Orleans- Jazz war das ja wahrscheinlich noch einfacher, weil jedes Instrument eine fest zugewiesene Rolle hatte (Posaune/ Kornett/ Klarinette) ?

Ja, im New Orleans Jazz waren die Rollen klar verteilt: Posaune bleibt unten, schleppt etwas rum, mach lustige Nilpferd-Effekte… tailgate… ob das hier stimmt weiss ich nicht:

The band–usually a trombonist, cornetist, clarinetist, bass instrument (either a tuba or double bass), chordal instrument (either a banjo or piano), and a drummer–would advertise their dance by marching in parades or playing in a wagon pulled around the street of New Orleans. The trombonist, in order to have enough room to maneuver his slide, would sit at the back of the wagon, giving the name „tailgate trombone“ to this style.

Quelle

Kid Ory war da wohl der grosse Meister – kein Virtuose, auch kein wirklich guter Posaunist, aber einer, der genau wusste, wie er zu spielen hatte, damit es gut klang und er perfekt rüberkam (auch das ist Hohe Kunst… ich erinnere an unsere Mucke-Diskussion!)
Die Trompete spielt darüber die Melodie, hat den Lead, während die Klarinette sie umgarnt. Mit dieser Rollenverteilung waren Konflikte mehr oder weniger auszuschliessen, vorausgesetzt die Musiker waren mit den Stücken vertraut und in der Lage, nicht ausserhalb der harmonischen Regeln zu spielen, wenn das sich nicht anbot… letzteres gilt be einer Kollektiv-Impro im modernen Jazz genauso – und sollte auch einigermassen sicherstellen, dass keine ungewollten Clashs entstehen. Ein gewisses Mass an Dissonanz ist ja stets spannend und im Hardbop konnten sich die Musiker diesbezüglich einiges mehr erlauben als im New Orleans Jazz.

ferryDas ist ja schon beeindruckend, wenn Mangelsdorff damals so auf Augenhöhe mit den US- Jazzern war. Aber das war dann doch im bereich Free Jazz/Avantgarde?

Nun, den Mangelsdorff-Track hier würd ich nicht wirklich „Free Jazz“ nennen, aber ich hab auch kein wirklich passendes Etikett dafür. Was wir hier hören ist wohl eine Weiterentwicklung des Naura-Tracks und des Freund-Tracks (etwa in der Reihenfolge, dann folgt Albert… und etwas später gab’s dann auch noch den Brötzmann, mit dem Mangelsdorff natürlich auch gespielt hat). Es herrscht eine Aufbruchsstimmung, eine Atmosphäre, in der plötzlich vieles möglich ist, was zuvor undenkbar gewesen ist.
Mangelsdorff ist meines Ermessens gross ganz unabhängig von der Geographie. Natürlich gibt’s immer das „Problem“, dass Jazz eben herkunftsmässig nicht seine (ebensowenig unsere) Musik war und ist, aber um 1960 (siehe auch meinen Post zum Album Jazz Is Universal von der Kenny Clarke-Francy Boland Big Band) hatte sich das soweit geändert, dass es in Europa Dutzende Musiker gab, die auf Augenhöhe mit den Amerikanern Jazz spielten – um einige zu nennen: in Frankreich Barney Wilen und Martial Solal, René Urtreger und Pierre Michelot, in der Schweiz George Gruntz, Flavio und Sohn Franco Ambrosetti, Daniel Humair (letzterer ging allerdings mit 20 nach Paris und gehört bis heute zur französischen Szene), in Italien Giorgio Gaslini, Eraldo Volonte, Giorgio Azzolini, in Österreich Hans Koller, der zwar schon länger da war, aber geraume Zeit gebraucht hatte, um sich zu emanzipieren, siehe #1.3, wo er noch nicht so weit war, in Osteuropa gab’s ebenfalls diverse tolle Musiker wie Krzysztof Komeda, Jan „Ptaszyn“ Wróblewski oder Jerzy Milian, in Spanien Tete Montoliu, in Skandinavien Musiker wie Bernt Rosengren oder die etwas älteren Arne Domnerus und Lars Gullin, in England Leute wie Tubby Hayes, Ronnie Scott, Joe Harriott, Stan Tracey… und viele andere mehr. Diese Zahl grossartiger Musiker gab’s in Europa in den 40ern und 50ern noch nicht, da hatte sich in der Tat einiges geändert!

ferryHier hast Du ja auch schon geschrieben, was Dich am Free Jazz fasziniert. Rein theoretisch kann ich dem ja schon folgen/ zustimmen, aber vom musikalischen Verständnis bisher nicht. Das Stück werde ich mir noch ein paar Mal anhören.
Wobei, die härteren Brocken sind ja eigentlich eher auf CD2 zu finden.
Die Schwierigkeiten habe ich auch eher damit, wie freie Musik sich anfühlt. Eben von der Rezeption erst mal evtl. schräg, unharmonisch oder unzusammenhängend.
Das mit der Faszination an Grenzbereichen/ Grenzüberschreitungen hängt ja wahrscheinlich auch mit dem eigenen musikalischen Verständnis zusammen, wenn man eben auch versteht (oder zumindest ansatzweise) was die Musiker da gerade machen. Nur unter ästhetischen Gesichtspunkten kann man sich jedenfalls bestimmt nicht dieser Musik annähern ?

Oh, doch, das ist bestimmt möglich! Coltranes „A Love Supreme“ gehörte bei mir früh schon zu den allerliebsten Alben (wenn man 13 ist, keine Ahnung hat und ca. 10 Jazz-Alben kennt, denke ich, darf man „A Love Supreme“ als Avantgarde durchgehen lassen, ja? Heute ist sie Pop, aber auch bloss wegen der Wirkungsgeschichte, die Musik bleibt grossartig, provokativ, anregend, berauschend… zumindest für mich).

ferryVon Doldinger kann auch letztens was aktuelles im Fernsehen, das hat mir auch gefallen (schön das ich mich jetzt traue das mal zu schreiben). Er hatte zwei Percussionisten dabei, das ist bei mir sowieso schon die halbe Miete. Und er hatte einen wirklich sehr guten Pianisten/ Keyboarder, dessen Name aber nicht genannt wurde. Er selbst hat eigentlich auch schön melodiös gespielt. Die Atmosphäre des Konzerts war allerdings etwas bieder (siehe auch vorgarten’s Kritik, damit habe ich auch so meine Probleme!).

Ich will Doldinger nicht schlechtreden – auch heute nicht. Er trat vor kurzem hier auf, mal sehen, ob das am Radio laufen wird und ich’s rechtzeitig mitkriege… mir sagt einfach die Passport-Musik überhaupt nicht zu, die ist zu glatt, für mich das perfekte Beispiel für todlangweilige (ja tote) Fusion-Musik – da fehlt das pulsierende, das lebende, das ehrliche, direkte, offene, das ich in der Musik suche. Allerdings hab ich vor ein paar Jahren mal eine Doku über ihn gesehen (muss im WDR gewesen sein) und fand, das sei ein super Typ, auch wenn ich mit seiner Musik nicht mehr viel anfangen kann… das, was er in den ersten zehn Jahren gemacht hat (im BFT ist übrigens mehr als nur das Stück mit Rolf Kühn zu hören ;-) ), gefällt mir noch immer und ich höre immer mal wieder was davon!

ferryDas Stück gefällt mir schon, aber es ist für mich doch etwas zu melancholisch. Nur mal allgemein zum Thema melancholische Musik: Die scheint ja auch hier im Forum unheimlich hoch im Kurs zu stehen. Ich kann das nicht ganz nachvollziehen, denn Melancholie ist nicht unbedingt ein Gefühl, das ich durch das Hören von entspr. Musik erzeugen bzw. verstärken möchte. Auf jeden Fall aber lege ich keinen besonderen Wert darauf.

Hm… es gibt viel Musik, die ich nicht immer hören kann, die ich aber manchmal – in der passenden Stimmungslage – sehr, sehr gerne höre. Das betrifft in manchen Fällen auch düstere, melancholische, „schwierige“ Musik (etwa Andrew Hill). Es kann aber schonmal sein, dass ich Lester Young höre und vom einem Stück zum nächsten von Euphorie zu Melancholie wechsle… ich kann das alles nicht so genau greifen, es gehört seit über 15 Jahren zu meinem Leben, finde es schwierig, aus mir herauszutreten und darüber nachzudenken. Das Stück hier kann ich allerdings in jeder Gemütslage hören – es hat etwas von Film-Musik, es ist produziert… auch wenn das Trompetensolo mich berührt ist das keine Musik, die tief ins Innere geht bei mir.

ferryDas werde ich mir auch noch mal anhören. So ganz überzeugt von dem Stück bist Du aber wohl auch nicht, anscheinend aber doch von einigen Teilen. Dann hört man sich im Endeffekt wohl doch besser was richtiges an (die Vorbilder ;-)).

Doch doch, ich bin schon überzeugt davon! Ich würd ihm wohl ****1/2 geben, mit etwas Abzug fürs letzte Drittel und das nicht wirklich inspirierte Trompetensolo. Und Vorbilder… das ist eben so eine Sache. Das hier fällt auch in die 60er, die Zeit, in der eben vieles möglich schien… es ist später als das Mangelsdorff-Stück entstanden. Vorbilder hören kann man hier höchstens für die einzelnen Instrumentalisten, ähnliche Musik als ganzes kenne ich nicht, jedenfalls keine, die ich als Vorbild für die Gruppe hier identifizieren könnte (aber hey, auch ich kenn noch längst nicht alles!).

ferryAuf Bass- und Drum- Soli bin ich auch nicht besonders scharf. Aber es kommt natürlich auch darauf an- kurze und knackige Soli sind meistens sehr schön. Wenn das ganze aber länger wird und ausartet, dann meistens nicht.

Ich mag den Bass als Solo-Instrument sehr, hab auch schon Bassisten in diversen Formationen live erlebt, bisher zwar noch nie solo, aber Joëlle Léandre im Duo mit Roy Campbell war grosse Klasse, etwas weniger toll fand ich das Duo mit Lauren Newton (was aber eher an letzterer lag, so eindrücklich ihre Gesangskünste sind, sie übertreibt mir doch immer wieder). Dann hab ich mal Barry Guy im Duo mit der griechischen Sängerin Savina Yannatou gehört… und doch, auch ein Solo-Set, ca. 30 oder 35 Minuten, von Reggie Workman – auch das war sehr schön!
Aber klar, auf sowas muss man erst mal neugierig (oder zufällig draufstossen und sofort begeistert) sein, sonst sucht man sich sowas nicht…
Irgendwann brauchen wir hier eh noch einen Thread zu Solo-Alben.

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