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Zu Beginn möchte ich mich noch einmal bei allen Teilnehmern bedanken, die mitgerätselt und ihre Eindrücke mitgeteilt haben. Mir hat das große Freude bereitet und besonders die Resonanz fand ich sehr toll – Danke!
Gut, dann beginne ich mit dem ersten Teil der Auflösung, bevor redbeans das übrige noch im Handumdrehen aufdeckt, denn:
#1: Earl Washington – Reflections
Earl Washington (p), Israel Crosby (b), Vernel Fournier (d)
Workshop Jazz
Chicago, 1963
Earl Washington wurde 1921 in Chicago geboren und bekam schnell den Spitznamen „Ghost“, da er offenbar eine ausnehmend blasse Erscheinung gewesen sein muss und geisterhaft das Klavier bediente. Wie man hier besonders gemerkt hat, trifft dieser Spitzname allerdings auch auf sein musikalisches Erbe zu, welches nur wenig dokumentiert und gar nicht wiederveröffentlicht wurde. „Reflections“ war die zweite Veröffentlichung des Pianisten auf dem Motwon-Sublabel „Workshop Jazz“, für das sich Roy Brooks als musikalischer Leiter verantwortlich zeichnete. Die erste Veröffentlichung des Labels war die All Stars-Band, geleitet von Washington, auf die redbeans bereits hingewiesen hat.
Washington studierte in Chicago und Boston, erwarb sich dort seine ersten musikalischen Meriten und spielte nach dem Zweiten Weltkrieg in der Band von Red Saunders, einem Rnb und Swing-orientiertem Drummer aus Chicago. Danach schrieb und arrangierte Washington hauptsächlich für Motown-Künstler, arbeitete mit Count Basie und spielte als Resident-Pianist in einigen Chicagoer Jazz-Clubs. Später hielt er außerdem musikwissenschaftliche Vorlesungen ab und war als Klavierlehrer tätig.
Durch seine Ausbildung und die unterschiedlichen Studio-Erfahrungen war Washington ein vielseitiger Pianist, der irgendwo in der Tradition von Art Tatum und Oscar Peterson steht, aber auch impressionistische Einflüsse von Ravel und Stravinsky zu integrieren vermochte. In den Liner Notes zu „Reflections“ – geschrieben von Johnny Pate – ist zu lesen, dass Washington in naher Zukunft eine Suite in Form eines Klavierkonzertes mit Orchesterbegleitung aufnehmen wollte, allerdings scheint daraus nichts geworden zu sein. Zu Crosby und Fournier kam Washingston schätzungsweise durch gemeinsame Auftritte, da alle sich in Chicago gekannt haben dürften, näheres sucht man jedoch vergebens. Beide hatten ihre Arbeit mit Ahamd Jamal bereits beendet und Crosby, übrigens einer der ersten afro-amerikanischen Studio-Bassisten, starb kurze Zeit nach den Aufnahmen, die irgendwann 1962 entstanden sein dürften.
Das Titelstück entspricht dem Bluesschema, ist jedoch durch die östlichen Anklänge weit trickreicher geraten. Crosby passt sich dem Rhythmus gut an, während man bei Fournier den Spaß herauszuhören meint, wie er dem Groove Kanten verleiht und Washington dann mit den Becken durch das Stück treibt. Washington dehnt und kürzt, arpeggiert, trillert und treibt sich selbst mit wechselhaften und leichtfüßigen Läufen an, ohne den Boden, den Groove aus den Augen zu verlieren.
#2 Clifford Scott – Samba de Bamba
Clifford Scott (ts), Les McCann (p), Joe Pass (g), Herbie Lewis (b), Paul Humphrey (d)
Pacific Jazz
Los Angeles, 1. Feb. 1963
Clifford Scott, Texas-Tenor. Er sammelte erste Erfahrungen in der Band von Lionel Hampton und spielte dazwischen mit RnB-Musikern wie Roy Brown, Roy Milton, oder Jay McShann. Zurück bei Hampton kam Scott mit Clifford Brown oder Jimmy Cleveland in Berührung und ging danach wegen eines Musikstudiums nach New York. Dort traf er auf den Organisten und Pianisten Bill Doggett, an dessen Nummer „Honky Tonk“ er offenbar auch als Komponist beteiligt war und damit einen ersten Hit produziert. Auf rockabilly.nl liest man dazu folgendes: „Honky Tonk“ was conceived by Clifford Scott and Billy Butler (who played guitar in Doggett’s combo) in an informal hotel room jam session before a dance in Lima, Ohio. That night, on stage and without rehearsal, Butler told Bill Doggett and drummer Shep Shepherd to „just play a shuffle“ and when they got through the people started to applaud. They wouldn’t get off the dance floor, they just continued to stand there and appalud „more, more, more..“. So they did it again, played some other tunes and had an intermission, and when they came back the audience started yelling „We wanna hear that tune!“. And they didn’t even have a name for it.“
1961 kam Scott nach Los Angeles und arbeitet als RnB-Session-Musiker, u.a. in der Band des Schlagzeugers Wayne Robinson. In dieser Zeit sind weitere, gemeinsame Aufnahmen entstanden, so z.B. eigene Dates für World Pacific, oder auch „Evenin‘ Blues“ von Jimmy Witherspoon.
„Out Front“ ist das dritte Album mit Scott als Leader und als solches auch das gewichtigste. McCann hatte kurz zuvor Paul Humphrey in seine Band aufgenommen und für diese Session Joe Pass hinzugeholt. Die Handschrift von McCann ist klar erkennbar und so zeichnet er sich auch als Komponist des Stückes „Samba de Bamba“ verantwortlich. Die Musik ist eine Mischung aus Bossa und Samba und die Band erreicht einen leichten, aber doch irgendwie härter klingenden Groove. Scott eröffnet sehr melodiös und färbt den Rhythmus etwas nachdenklich, melancholisch ein, bevor McCann auflockert und Scott in der Folge mitnimmt. Spannend finde ich die kurze Bridge, bevor Scott anfängt, das Terrain zu explorieren. Er zeigt aus meiner Sicht sehr schön, dass er Texaner ist und über viel Rhythm and Blues-Erfahrung verfügt, verhehlt aber auch nicht, dass er härter spielen kann, indem er ein paar schöne Stops und kleine crys einfließen lässt. Pass und McCann nehmen den Groove gekonnt auf und schaffen ein paar kleine, melodisch schöne und gar nicht unspannende Interventionen, lassen Scott aber klar im Rampenlicht stehen.
Die gesamte Session ist recht schön geraten und gehört zu Unrecht zu den unbekannten Pacific Jazz-LP’s. Trotzdem hört man klare Grenzen und ich glaube, dass Scott von einer Hardbop-orientierten, aber auch gutmütig spielenden Rhythmusgruppe stark hätte profitieren können.
#3 Paul Gonsalves – Boom-Jackie-Boom-Chick
Paul Gonsalves (ts), Pat Smythe (p), Kenny Napper (b), Ronnie Stevenson (d)
Vocalion
London, 1963
Über Paul Gonsalves muss ich wenig schreiben, da er allen bekannt sein dürfte. Nachdem er lange Zeit in der Band von Duke Ellington saß und diesem durch sein Solo im Rahmen des 1956er Newport Jazz Festival zu neuem Glanz verhalf, nahm er einige Alben in wechselnden Besetzungen unter eigenem Namen auf, die sich unterschiedlicher Bekanntheit erfreuen. Seine bekanntesten Leaderalben sind zwischen 1957 und 1963 auf Argo, Jazzland und Impulse veröffentlicht wurden, während „Boom Jackie Boom Chick“ erst 1964 erschien. Das Titelstück und damit die gesamte LP sind Jack Sharpe zugedacht, einem Freund und Londoner Clubbesitzer, in dessen Wohnung Gonsalves 1974 verstarb. Sharpe spielte außerdem Tenor- und Baritonsaxophon und war viel mit Tubby Hayes unterwegs. Nach einer kurzen Zeit als Taxifahrer stürzte er sich wieder ins Musikleben und ist auf einigen Aufnahmen zu hören. So spielt er auch auf zwei Stücken von „Boom-Jackie-Boom-Chick“. Näheres zu Sharpe liefert [COLOR=“DarkOrange“]diese informative Seite.
Die exzellente Gruppe um Pat Smythe, der bereits Erfahrungen mit Dizzy Reece sammeln konnte und bei Joe Harriott spielte, ermöglicht es Gonsalves, seinen seidig-warmen Tenor strahlen zu lassen. Gleichzeitig treiben sie ihn an und gestatten ihm wenig Ruhe. Besonders im zweiten Teil beißt Gonsalves zu und steigt unerwartet ein, fängt sich aber schnell wieder und glättet seinen Ton, bleibt aber etwas kantiger. Smythe spielt ein schönes, perlendes Solo und zeigt seine elegante, lyrische Art, die mit der Majestätik Gonsalves gut harmoniert. Sehr interessant finde ich übrigens den Bass, der sehr funkig klingt und damit dem Stück ein bißchen einen Latin-Touch verleiht, den Gonsalves und Smythe auf sehr dezente Art absorbieren.
#4 The Jazz Brothers – Something Different
Chuck Mangione (tp), Gap Mangione (p), Sal Nistico (ts), Larry Combs (as), Bill Saunders (b), Roy McCurdy (d)
Riverside
New York City, 8. Aug. 1960
Endlich die erste typische Hardbopnummer, ausgerechnet von einem Musiker angeführt, der heutzutage so gar keine Jazz-Credentials mehr hat. Die Jazz Brothers waren ein junges Ensemble, das in Rochester, NY von ein paar Freunden gegründet wurde und nahezu unverändert drei Alben aufgenommen hat. „Something Different“, eine Komposition von Chuck ist der Kick-Off zum Debütalbum der Band, die zu diesem Zeitpunkt etwa seit einem Jahr gemeinsam in Rochester musizierte. Übrigens wurden während dieser Zeit die Adderley-Brüder auf die Mangione-Brüder aufmerksam, machten einen Plattendeal mit Orrin Keepnews klar und produzierten in der Folge den Erstling für Riverside. Das ausgewählte Stück hat für mich alles, was ein klassisches Hardbop-Stück haben muss. Eine hungrige, junge Band (die Solisten waren 19/20 Jahre alt, Bassist und Drummer nur wenig älter), eine schön abgezirkelte Komposition mit eingängigem, melodischem Thema und darauf aufbauende, rasante Soli, die ineinander übergehen.
Sal Nistico, der großartige Tenorsaxophonist macht den Anfang und verrät hier noch ein bißchen etwas von seiner RnB-Vergangenheit, deutet aber bereits die Richtung an, in die er sich später weiter entwickelte – muskulös, aber beweglich, bop-orientiert, trotz dessen auch an Ammons orientiert. Auch wenn das kurze Intermezzo hier nur wenig von seiner Größe verrät, lohnt es sich, vor allem nach seinem ersten Leaderalbum „Heavyweights“ Ausschau zu halten, das ihn schon als wesentlich reiferen Musiker präsentiert. Ein großer Konkurrent auf dieser Aufnahme ist sicher Larry Combs, der allerdings bald danach verschluckt wurde und erst in den 70ern wieder vereinzelt Aufnahmen machte, u.a. für Gloria Gaynor. Sein Ton hier ist scharf, irgendwie kantig, aber gleichzeitig wendig genug und er zeigt ein paar Manierismen, die ich durchaus in Bezug zu Dolphy setzen würde. Auch Chuck Mangione zeigt im Mittelteil, dass er ein guter, Gillespie-orientierter Trompeter war. Er klingt zwar vergleichsweise dünn, atmet in seinem Solo alledings reinen Bebop und präsentiert aus meiner Sicht die besten Ideen des Stücks. Man darf auch hier nicht vergessen, dass er erst 19 Jahre alt war und sich in der Folgezeit weiter entwickelte, bis hin zu Blakey’s Jazz Messengers.
In der Folgezeit sind zwei weitere Alben der Gruppe auf Riverside erschienen, in der lediglich Drummer und Bassist ausgewechselt wurden (Vinnie Ruggiero und Frank Pullara kamen stattdessen). Chuck Mangione spielte außerdem ein gutes Soloalbum für Jazzland ein und konnte für „Recuerdo“ auf eine exquisite Band zurückgreifen, während Nistico das erwähnte „Heavyweights“ mit Nat Adderley und Barry Harris und „Comin‘ on up“ für Jazzland/Riverside aufnahm. Auf dem letzteren ist übrigens Sal Amico zu hören, ein ebenso vergessener Trompeter. „Hey Baby“ ist die schwächste Platte der Jazz Brothers, während „Spring Fever“ ein ähnlich hohes Niveau erreicht. dustygroove.com bezeichnen diese Platte als ‚the kind of record you put on, then run back to the turntable a few minutes later, saying „What is THIS?“ und das ist auch für das Debüt zutreffend.
Auf [COLOR=“darkorange“]Mangionemagic sind die Linernotes von Orrin Keepnews zu lesen, die noch ein paar weitere Infos enthalten.
Ach und über das spätere Werk von Chuck Mangione reden wir mal nicht, aber Gap Mangione hat mit „Diana in the Autumn Wind“ ein tolles Alben veröffentlicht, das oft gesampled wurde und ihn auch als eigenständigen Komponisten empfiehlt.
Teil #2 folgt, sobald ich dazu komme!
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"There is a wealth of musical richness in the air if we will only pay attention." Grachan Moncur III