Re: bft 4 – vorgarten

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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So, bevor ich mich schlagen lasse, schreibe ich doch noch mal ein paar Zeilen zu diesem blindfold test. ;-) Das geschieht in Echtzeit parallel zum Hören.

Nr 1: Hatte ich bereits identifiziert. Funktioniert für mich weniger über die individuellen Leistungen der Musiker – auch wenn die vermutlich gut sind – sondern eher über die Struktur. Wie sich das Stück aufbaut und Dramatik entwickelt, wie sich fast ein wall of sounds aus vielen Stimmen entwickelt und alles immer dichter wird, bis es dann in das Gegenteil umschlägt und sich wieder auflöst, das finde ich toll. Diese ganzen overdubs sind natürlich nicht live gespielt. Eigentlich ein Jazz-Tabu, aber was soll’s? Das Chicago Underground Quartet sieht’s vermutlich undogmatisch und am Ende zählt das Ergebnis. Auf der CD SLON wird dieses Stück, das übrigens Protest heißt, von einem fast ausschließlich elektronischen Stück gefolgt. Eigentlich müsste man einen Thread über das Label Thrill Jockey aufmachen, wo all das parallel passieren kann, in diesem Fall sogar auf einer und derselben Platte.

Nr. 2: Ach ja, Jazz halt, hätte ich fast gesagt. Drei vermutlich virtuose Musiker, rasende Läufe, klingt auch aufregend aufgeregt. Gerade kommt auch das obligatorische Bass-Solo, von dem ich lieber verschont werden möchte, aber okay, auch der Bassist soll seine paar Sekunden Berühmtheit haben. Keine Ahnung, wer das ist. Uri Caine fällt mir ein, allein wg. der Virtuosität und der Tempos, aber den habe ich eigentlich witziger in Erinnerung.

Nr. 3: Packt mich sofort! Ich mag den Latino-Rhythmus. Toll ist, dass es keine Lead-stimme zu geben scheint, sondern die einzelnen Bläser-Sections quasi als gleichberechtigte Solisten auftreten. Aber das trifft es nicht ganz, denn sie wirken ja nicht individualistisch oder persönlich, im Sinne eines eigenen Tones. Funktioniert für mich auch eher über die Struktur als über die Individualität, die Soloparts finde ich weniger interessant. Eigentlich etwas, das typisch latin ist, hier ist das aber noch mal etwa anders stilisiert. Habe fast überhört, dass es überhaupt ein Piano gibt. Trägt wohl die Handschrift des Arrangeurs

Nr. 4: Habe ich auch schon erkennungsdienstlich behandelt und den Kreis der Verdächtigen erfolgreich einschränken können. Es ist Sun Ra mit Pat Patrick am Bari-Sax. Pleasure, ursprünglich von der LP Other Planes of There von 1964 (veröffentlicht erst 1966) Ich kenne das von einer amüsanten Sun Ra Greatest Hits. Eigentlich bloß ein kleines Kuriosum, aber ich finde das hübsch! Wieso hat vorgarten gerade dieses Stück ausgewählt?

Nr. 5: Die Band wirkt mir etwas zu professionell aber die Sängerin versprüht einen verlockenden Lolita-Charme. Das gefällt mit natürlich! In Laufe des Stückes wird sie aber sehr schön erwachsen und selbstbewusst. Aber das ist eine Lolita eigentlich sowieso. Gefällt mir.

Nr. 6: Bei den ersten Klängen der Stimme dachte ich an Helen Merrill, das klingt so kühl und sophisticated. Aber dieser Eindruck verflüchtigt sich schnell, die Stimme wirkt dann doch extrovertierter und spritziger. Aber auch sehr kultiviert. Eine Mischung aus hellen Merrill und Abbey Lincoln? Gefällt mir, Bar Jazz im besten Sinne.

Nr. 7: Sehr perkussiver und lebhafter Anschlag. Bud Powell ist es nicht, steckt aber knietief im Bop/Hardbop. Ich würde sagen, ein tightly knit Pianotrio, das mir Spaß macht. (Durch Zufall habe ich rausgefunden, wer das ist, sag’s aber nicht, da ich es nicht selbst erkannt habe)

Nr. 8: Schönes Mainstream-Stück mit einer schönen Instrumentierung. Finde ich gefällig, wenn auch nicht wirklich herausragend. Keine Ahnung, wer das ist

Nr. 9: Das ist natürlich Giant Steps. Sehr dichtes Spiel, funkelnd und berauschend. Der Urheber der Komposition und auch das nicht gerade sparsame Spiel legen natürlich Alice Coltrane als Interpretin nahe …

Nr. 10: Mir gefällt der verhaltene Einstieg, der erstmal ein bisschen Spannung aufbaut, bis die Drums einsetzen und Stück langsam in Schwung kommt. Sehr schön zartes Sax, irgendwo zwischen Stan Getz und Paul Desmond. Ist aber viel jünger das Stück. Daumen hoch. Wieso gefällt Euch das Sax nicht?

Nr. 11: Für einen guten Soul-Jazz bin ich eigentlich immer zu haben. Ich finde das hier auch ganz okay aber nicht herausragend. Soul Jazz ist ja Genre und oft recht austauschbar, da muss man schon klasse haben, um sich abzuheben. Das E-Piano ist recht ruppig , das finde ich etwas ungewöhnlich und interessant.

Nr. 12: Schon als Remix von Herbie Hancocks Actual Proof identifiziert. Wer das geremixt hat, kann ich natürlich nicht sagen. Finde ich klasse! Das ist heißer Scheiß, macht mich ganz zappelig. Ich kann es in keiner Weise gutheißen, dass dieses Stück von der Jazzfraktion hier so vehement abgelehnt wird! ;-) Ich habe vergessen, den Bassisten zu nennen: Paul Jackson. Und die Synthie-Sounds sind natürlich obercool!

Nr. 13: Kann sich nicht zwischen Bar-Jazz, Kuba und Free entscheiden, finde ich. Weniger als die Summe seiner Teile.

Nr. 14: Romantisch! Die Flöte ist bezaubernd, Drums und Bass umspielen das sehr schön locker, tänzelnd. Beim Bass-Solo verliere ich ein bisschen das Interesse. Aber ansonsten toll! Ich vermute, dass das eher jüngeren Datums ist.

Nr. 15: Grausam! Der Groove, den Drums und Bass legen, hat was, bloß wieso jemand irgendeinen hölzernen Sax-Track da drauf pappt, verstehe ich nicht. Und dieses völlig unmotivierte Scratching hört sich für mich wie der hilflose Versuch, sich dem Hip Hop an den Hals zu werfen an. Erheblich weniger als die Summe seiner Teile.

Nr. 16: Das versöhnt mich wieder. Sehr elegant gleitender Groove, sanfte, träumerisch klingende Trompete. Den Bass finde ich in seiner monotonen Art auch sehr schön. Könnte bei diesem Stück stundenlang versonnen zum Fenster rausschauen. Merke gerade, dass es gar kein Piano gibt. Fehlt mir aber auch nicht im Geringsten. Der Bass trägt das Stück. Dass der Trompeter nicht Dave Douglas ist, wurde schon gesagt, oder?

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)