Re: Stan Getz

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Nachdem Getz in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre eine unglaubliche Menge an Aufnahmen gemacht hatte – manche davon in Europa – traf er 1961 wieder mit Bob Brookmeyer zusammen. Eine erste Verve-Session in New York am 13. Februar resultierte in zwei Stücken („Upper Manhattan Medical Group“ und „Just in Time“), die allerdings unveröffentlicht blieben. Die beiden wurden von Dick Katz (p), Percy Heath (b) und Connie Kay (d) begleitet.

Eine Woche später, am 20. Februar, wurde Getz erneut von Verve aufgenommen, dieses Mal in Chicago. Das eine resultierende Stück, „Evening in Paris“, landete auf der LP „Stan the Man“, die einen Überblick der Jahre 1952-61 bot und ein paar zuvor unveröffentliche Stücke enthielt. In Chicago spielten Victor Feldman, Sam Jones und Louis Hayes mit ihm, die Rhythmusgruppe Cannonball Adderleys.
Nur einen Tag später, zurück in New York, fand erneut eine Verve-Session statt, dieses Mal eine von voller Länge und mit exquisiter Band: Steve Kuhn (p), Scott LaFaro (b) und Pete La Roca (d). Leider blieben alle Stücke bis auf eines wieder unveröffentlicht. Nur „Airegin“ landete auf „Stan the Man“. Sehr schade, da Scott LaFaros Diskographie eh schon sehr klein ist und mich sehr wunder nehmen würde, wie Getz mit dieser Band klingt! Steve Kuhn wird von Loren Schoenberg in den Liner Notes zu „Recorded Fall 1961“ (s.u.) wie folgt dazu zitiert:

We had recorded back in the spring with Scott, but Stan blocked the album’s release. He was unhappy with his own playing. Stan strove to get away from his clichés–when he couldn’t, he called himself the Jewish Lester Young. John Coltrane’s playing intimidated Stan at this time.

Am 3. Juli 1961 spielte fast dieselbe Gruppe – Roy Haynes sass am Schlagzeug – ein kurzes Set am Newport Jzz Festival. Das Set besteht aus „Baubles, Bangles and Beads“, „Where Do You Go“ und „Airegin“ und ist auf CD greifbar (link), gepaart mit einem Set von 1966 aus der Berliner Philharmonie (mit Gary Burton, Chuck Israels und Haynes – vermutlich klingen die jüngeren Radio-Austrahlungen davon aber besser als die Boot-Version). Später im Juli folgte mit Arrangeur Eddie Sauter die LP „Focus“, eins von Getz‘ ganz grossen Meisterwerken.

Auch bei der nächsten Session im September waren Steve Kuhn und Roy Haynes wieder mit dabei, am Bass ist John Neves zu hören, und in der Frontline als Co-Leader Bob Brookmeyer. Das resultierende Album Recorded Fall 1961 (Verve V[6]-8418, auf CD 2002 in der Verve Master Edition erschienen) ist sui generis, ein ganz eigenes und besonderes Album, das voller frischer und ungewöhnlicher Musik ist.
Das Album öffnet mit dem ersten von drei Brookmeyer-Originals, „Minuet Circa ’61“, ein wundervoller Walzer, der vom ersten Beat an mächtig swingt. Die AABA-Form ist in 16, 24, 16 und noch einmal 24 Takte aufgeteilt. Brookmeyer spielt schon im Thema kontrapunktische Linien unter Getz – wie in besten Zeiten, als die beiden regelmässig gemeinsam gespielt hatten. Was die Session hier auszeichnet ist aber ein breiterer Swing, eine lineare Spielweise, die stark auf den Jazz von Kansas City zurückgreift – der Heimat Brookmeyers, aber auch von Getz‘ grossem Vorbild Lester Young. Drummer Haynes hatte mit Pres und Bird gespielt, auch da die KC-Connection. John Neves spielt einen fetten Bass, nimmt seine Rolle viel konventioneller wahr als Vorgänger LaFaro, aber sein Sound mischt sich perfekt mit Haynes zu einem Fundament, wie es sich jeder Solist wünscht. Brookmeyer bläst das erste Solo des fast elfminütigen Stückes, in langen, eigenartigen Phrasen, die viel mehr an der Linie und dem Swing interessiert scheinen als an den Changes. Getz öffnet mit einem leichten Growl, spielt dann kürzere Linien mit Pausen dazwischen, hat seinen Spass mit kleinen Motiven, die er verdreht, repetiert, verändert und zu einem wunderbaren Solo zusammensetzt. Nach Kuhns schönem Piano-Solo folgt eine Passage, in der Brookmeyer und Getz gemeinsam spielen, ihre Linien sich zu einem dichten Netz verweben. Und das immer über diesen fetten Swing mit Haynes‘ hellem Snap-Crackle-Sound.
Eine ganz besondere Überraschung ist die zweite Nummer, „Who Would Care“. Das Stück beweist, dass Brookmeyer ein Balladen-Komponist allererster Güte war – Nat Hentoff fordert in seinen originalen Liner Notes, dass jemand Worte zum Stück komponieren müsse, „preferably a latter-day Lorenz Hart, if such still exists.“ Getz und Brookmeyer präsentieren das Thema abwechselnd, mit sich überlappenden Phrasen, als eine Art lyrischen Dialog. Wieder soliert Brookmeyer zuerst, bleibt in den tiefen Lagen seines Instruments, sein Ton warm und rund, eine Spur Vibrato. Getz übernimmt, bläst ein ruhiges Solo, bevor die beiden das Stück gemeinsam beenden.
Die erste Seite endet mit dem Gershwin-Klassiker „Nice Work If You Can Get It“, das in einer 33-taktigen Form gespielt wird – am Ende wird ein Takt angehängt (im Thema sind’s eigentlich zwei, wobei da nur noch ausgehalten wird). Diese eigenartige Form behalten sie auch in den Soli bei, natürlich ohne zu straucheln. Wieder ist auffällig, wie toll sich Neves‘ dunkler Bass mit Haynes hellen Drums vermischt. Kuhn folgt nach Getz als dritter Solist, bevor die beiden Leader das Thema beenden.
Die zweite Seite öffnet mit Brookmeyers „Thump, Thump, Thump“ mit einer ABCA-Form. Wie schon in der Gershwin-Nummer hält die Rhythmusgruppe, besonders Haynes, die Begleitung stets abwechslungsreich und spannend. Brookmeyer übernimmt das erste Solo, relaxt und swingend. Getz gelingt ein grossartiger Einstieg, der fast schon eine Verweigerung ist. Dann werden seine Linien länger, verdrehter, aber seine Phrasierung ist unendlich entspannt – man ahnt Spuren von Pres, aber auch von Al & Zoot – doch man hört unverwechselbar: Getz. Es folgt ein Solo von Kuhn und dann ein paar Runden Exchanges der Bläser mit Roy Haynes, über jeweils acht Takte.
Mit „A Nightingale Sang in Berkeley Square“ folgt eine weitere wunderschöne Ballade. Brookmeyer übernimmt anfangs die Hauptrolle, singt förmlich. Getz legt Gegenlinien, setzt ein und wieder aus, und übernimmt dann mit einem wunderbaren Solo, in dem man hie und da auch Anleihen ans Vokabular Ben Websters erahnen kann. Es folgt wieder Brookmeyer, dann wieder Getz – eine sehr gute Idee, um die Musik Abwechslungsreich zu halten, und auch ein Mittel, das sehr schön zeigt, wie perfekt die beiden Leader aufeinander abgestimmt sind. Nach Getz‘ letzter Runde folgt erneut Kuhn, sein Anschlag ist präzise, sein Ton wunderbar – neben Coltranes Begleiter McCoy Tyner vielleicht damals der frischeste Pianist des Jazz, und bis heute verkannt.
Als Closer hören wir das beschwingte „Love Jumped Out“ von Buck Clayton – noch ein Gruss nach Kansas City. Neves spielt halftime, Haynes swingt und Getz bläst ein flüssiges Solo mit luftigem aber festem Ton. Eine langestoptime-Passage folgt in der Mitte des Solo, danach honkt er fast wie Pres, bevor er wieder typische Getz-Phrasen bläst und dann Raum für Brookmeyer macht, der sogleich media in res ist. Er animiert Haynes zu einigen Fills, bevor auch bei ihm eine lange stoptime-Passage zu hören ist.
Das Album stand damals wohl ziemlich quer in der Landschaft, was auch seinen vergleichsweise geringen Bekanntheitgrad erklären dürfte. Kansas City Swing, entspannter moderner Mainstream Jazz erster Güte Anfang der 60er Jahre – wer mochte sowas schon hören? Nicht einmal schlaue Bebop-Tricks kriegt man zu hören… stattdessen Musik von grossen (um nicht zu sagen: alten) Meistern, ein wunderbares Statement von grösster musikalischer Reife, das aber zugleich auch zeigt, wie es Getz über die Jahrzehnte hinweg gelang, frisch zu bleiben, seinen eigenen Klischees immer wieder zu entgehen. Brookmeyers Name könnte wohl als Antonym von Klischee verwendet werden – sein Spiel ist wie immer völlig eigen, lyrisch, persönlich.

Am 27. November 1962 fand eine weitere Verve-Session mit Brookmeyer statt, die leider wieder im Kasten blieb. Neben Steve Kuhn waren Bassist Tommy Williams, Drummer Morris Mark und Brookmeyers Vorgänger in Getz‘ Band der Fünfziger, Gitarrist Jimmy Raney, dabei. Dieselbe Band mit Clark Terry hatte ein paar Tage zuvor auch schon für AudioFidelity aufgenommen – auch die Session blieb unveröffentlicht. In der Zwischenzeit hatte Getz seine erste Bossa-Platte, „Jazz Samba“, sowie „Big Band Bossa Nova“ eingespielt. Bei letzterer sass Brookmeyer auch in der Band, arrangiert hat allerdings Gary McFarland. Mit Raney, George Duvivier und Ed Shaughnessy hatte Getz zudem eine LP für die Reihe „Music Minus One“ aufgenommen: auf der einen Seite ist die ganze Band zu hören, auf der zweiten Seite dann nur die Rhythmusgruppe – Minus One eben, damit man mitspielen kann.

Im Februar und März 1963 folgten „Jazz Samba Encore“ und „Getz/Gilberto“, erstere der musikalische, letztere der kommerzielle Höhepunkt von Getz‘ Bossa-Zeit. Ebenfalls im März entstand die vielleicht am wenigsten bekannte Bossa-Scheibe mit Laurindo Almeida an der Gitarre, der immerhim mit Bud Shank in den 50ern die allerersten Jazz/Brasil-Fusionen unternommen hatte. Auch das eine sehr schöne Scheibe. Im Herbst folgte mit „Reflections“ eine etwas kommerziell ausgerichtete aber durchaus hörenswerte Scheibe mit grösserer Band (arrangiert von Claus Ogerman und Lalo Schifrin), aus dem Frühjahr 1964 erschienen viel später zwei schöne Dokumente: „Live in London“ aus dem Ronnie Scott’s präsentiert Getz mit der Hausband um Stan Tracey, „Nobody Else But Me“ ist die rare Verve-Session, die mit Jahrzehnten Verspätung dann doch noch erschienen ist und präsentiert Getz mit seiner neuen Band: Gary Burton (vib), Gene Cherico (b) und Jim Hunt (d). Eine Session vom 22. April mit derselben Gruppe (Chuck Israels für Cherico) sowie Bill Evans blieb im Kasten, die Mai-Sessions mit Evans, Israels und Elvin Jones hätte man vielleicht auch lieber nicht veröffentlicht, oder nur einzelne Tracks daraus. Im Mai folgte mit „Getz Au Go Go“ noch eine Bossa-Scheibe, im Herbst entstand dann eine EP für den Film „Get Yourself a College Girl“ – die Skihütten-Szene mit Astrud, dem Mädchen von Ipanema, verlinke ich immer wieder gerne. Im Oktober trat die ganze Getz/Gilberto-Package auch in der Carnegie Hall in New York auf. Ausschnitte daraus sind auf „Getz/Gilberto #2“ dokumentiert, einer weiteren schönen Scheibe. Die CD aus den 90ern enthielt einige lohnenswerte Bonustracks, die leider auf der „Verve Originals“ wieder fehlen (dasselbe gilt fürs Getz/Almeida-Album, dort handelt es sich aber nur um ein Stück).

Im Mai 1964 entstand in zwei Sessions im New Yorker 30th Street Studio von Columbia ein weiteres Album mit Bob Brookmeyer, Bob Brookmeyer & Friends (Coumbia C 9037), erschienen 1965. Neben Getz‘ wichtigstem Begleiter Gary Burton fanden sich Herbie Hancock und Ron Carter von Miles‘ Band sowie Elvin Jones von Coltranes Gruppe im Studio ein. Die Scheibe wurde 2005 mit drei Bonustrcks auf CD vorgelegt, auf „Day Dream“ ist Tony Bennett zu hören.
Der Opener „Jive Hoot“ stammt von Brookmeyer. Elvin Jones‘ Rhythmen formen einen starken Kontrast zu Haynes auf dem Album von 1961. Er spielt noch dichter, aber zugleich leichter, weniger deckend – klingt dabei völlig anders als mit Coltrane, ist aber doch deutlich erkennbar. Die Stimmung des Stückes kann als eine Art Country-Folk-Jazz beschrieben werden – Musik, wie Brookmeyer sie mit Jimmy Giuffre und auch auf eigenen Alben hin und wieder gemacht hatte.
Die Stücke sind insgesamt kürzer gehalten, ausführliche Kommentare zu jedem sind keineswegs vonnöten, aber es muss festgehalten werden, wie gut Getz und Brookmeyer auch hier wieder harmonieren, etwa im gemeinsam präsentierten „Misty“. Zudem, wie erfolgreich Hancock und Burton gemeinsam begleiten, beide sparsam und lyrisch – ihre Linien verschmelzen oft zu einer gemeinsamen Stimme.
In „Wrinkle“ taucht wieder Stoptime auf – und Burton glänzt mit einem tollen Solo. Er war ursprünglich nicht für die Session vorgesehen – in seinen Liner Notes zur CD-Ausgabe von 2005 berichtet er ausführlich, wie es dazu kam, dass er doch mitspielte. Auszüge:

I was working with Stan Getz’s band, and I got a late-night call from Stan. He had just come from a recording session with Brookmeyer and he was unhappy. He said there was a lot of tension at the session and he wanted me to come the next day for moral support. […]
I still didn’t understand why Stan was uncomfortable at the session and I tried to talk him out of bringing me along unannounced the next day, but he was insistennt that he wasn’t going back unless I went too. You can probably imagine how awkward I felt walking into Columbia’s 30th St. Studio, a former church and a legendary New York studio. Waiting for us were Brookmeyer, Herbie Hancock, Ron Carter, Elvin Jones and producer, Teo Macero. And, there I was lugging in a vibraphone. There were several quizzical faces staring at me and I left it to Stan to explain to Bob that he had invited me to join the sessions. I half-expected a few glares given that my presence was going to complicate everything. The music had been written for a quintet, and now there was a sixth player and no parts for me to play. […]
Brookmeyer was terrific about it. He welcomed me with open arms and quickly re-did some of the parts, splitting up things originally intended for piano or the horns and figuring out what parts to assign to the vibes.

~ Gary Burton: Bob Brookmeyer, Liner Notes zu „Bob Brookmeyer & Friends“, Columbia/Legacy 520374 2, 2005

Das Stück „Bracket“ entstand, genau wie „Day Dream“ mit Bennett, an der ersten Session, noch ohne Gary Burton. Brookmeyer spielt ein wunderbares Posaunensolo. Getz honkt später wie ein besessener – bestimmt nicht sein bester Moment, aber ob man die Anspannung fühlen kann? Die Exchanges der Bläser mit Elvin Jones, die auf Hancocks kurzes Solo folgen, wirken jedenfalls entspannt und locker.
Wunderschön ist die Interpretation von Hoagy Carmichaels Klassiker „Skylark“. Getz bläst die Melodie sehr verhalten, nachdem Hancock einen ganz feinen Teppich ausgerollt hat und ihn auch im Thema vorzüglich begleitet. Brookmeyer übernimmt dann die zweite Hälfte, während Getz unter ihm anfangs noch weiterspielt. Burton setzt dann ein, spielt die Melodie, während Getz ganz leise zu solieren beginnt. Brookmeyer übernimmt bald wieder, mit stärkerem Sound, während Burton aus der Melodie fällt und begleitet. Carter/Jones deuten doubletime an, Jones fällt manchmal auch kurz ins schnellere Tempo, aber die Atmosphäre wird nie gebrochen.
Dann folgt das beschwingte „Sometime Ago“, ein Original des jugoslawischen Bassisten und Komponisten Sergio Mihanovich, das längst zum Standard geworden ist. Da ist wieder der knackig-swingende 3/4 wie in Brookmeyers „Minuet“ von 1961 – aber mit Elvin Jones und Ron Carter ganz anders akzentuiert. Nach Brookmeyers und Getz‘ Soli übernimmt Herbie Hancock und spielt ein aussergewöhlich tolles Solo.
Mit „I’ve Grown Accustomed to Her Face“ folgt eine weitere wunderschöne Ballade mit grossartigem Brookmeyer und ihn fein umgarnenem Getz, bevor das Album mit dem siebenminütigen und längsten Stück, dem Gershwin-Song „Who Cares“, sehr beschwingt endet.
Es folgen auf der CD drei Bonustracks: Da ist zuerst „Day Dream“ mit Tony Bennett – sehr gelungen, finde ich. Getz wollte gemäss Burton schon lange mit ihm aufnehmen, es wurde gemäss der Bennett-Diskographie (wo „Day Dream“ fehlt) auch „Danny Boy“ eingespielt in der Session vom 25. Mai 1964 – wie „Day Dream“ ohne Burton, aber mit Brookmeyer, der allerdings nur ganz am Rande mitwirkt. Getz ist ein toller Begleiter und macht einen guten Job.
Der zweite Bonustrack heisst „Time for Two“ und stammt von Margo Guryan. Getz und Burton öffnen gemeinsam, dann fällt die Rhythmusgruppe hinter ihnen ein und Brookmeyer übernimmt die zweite Hälfte des Themas. (Burton schreibt, das Stück stamme von Brookmeyer… vielleicht hat Guryan auch nur einen Text dazu verfasst?) Getz und Brookmeyer lösen sich wieder mit kurzen symbiotischen Soli mehrmals ab und auch Burton ist zwischendurch kurz zu hören.
Den Abschluss der CD macht ein letztes Brookmeyer-Original, „Pretty Girl“ – eine weitere wunderchöne Ballade, in der auch Gary Burton noch einmal mit einem schönen Solo glänzen kann.

Zwischen April und Juni 1965 nahm Getz Eddie Sauter den Soundtrack für den Film „Mickey One“ auf. Die erneute Zusammenarbeit ist gelungen, erreicht aber nicht ganz das Niveau von „Focus“. Das Quartett mit Burton war viel unterwegs, im Sommer 1965 etwa in Japan. Bis im Jahr darauf spielte Getz im Quartett mit Burton, im November tourte Getz in Europa und trat u.a. in Berlin und Paris auf, vom Konzert in der Salle Pleyel liegt ein offizieller Mitschnitt vor, der zuletzt in der „Jazz in Paris“-Reihe von EmArcy/Universal Frankreich wiederaufgelegt wurde.
Hancock und Carter waren mit dabei, als Getz mit Claus Ogerman das Album „Voices“ aufnahm – eins der seltsameren Experimente. Langsam scheint Getz der Kompass abhanden zu kommen, doch 1967 folgt mit „Sweet Rain“ eine weitere Grosstat, ein wunderbares Album mit Chick Corea, Carter und Grady Tate. Es folgen u.a. ein Bacharach-Album, aber auch – 1969 – eine Tour mit Stanley Cowell, Miroslav Vitous, Jack DeJohnette sowie Flora Purim, von der leider keine offiziellen Aufnahmen vorliegen.
1971 nimmt Getz in Europa das tolle „Dynasty“ auf – mit René Thomas, Eddy Louiss und Bernard Lubat hat er eine exzellente Band hinter sich, die Orgel passt erstaunlich gut. Es folgen in der Zeit verschiedene Alben mit grossen Orchestern, darunter auch das leidlich gelungene „Communications 72“ mit Michel Legrand (ebenfalls in der „Jazz in Paris“-Reihe auf CD) und 1972 beginnt auch sein Columbia-Vertrag. Diese Alben sind ja neulich in zwei Boxen neu vorgelegt worden.

In den späten 70ern war Getz dann mit einer Working Band unterwegs, zu der Keyboarder Andy Laverne viel beitrug, mit seinen Synthesizer-Klängen und Kompositionen die prägende Figur war. Neben Getz und ihm bestand die Gruppe aus Bassist Mike Richmond und Billy Hart, später Jeff Brillinger am Schlagzeug, sowie dem Perkussionisten Efraim Toro. Mit Brillinger war die Gruppe 1978 unterwegs, als Bob Brookmeyer wieder einmal dazustiess. Am 26. März 1978 entstand ein Mitschnitt in Berlin (Volksbühne) und am 9. April wurde ein langes Konzert in Warschau aufgezeichnet, das auf zwei Bootlegs dokumentiert ist: Stan Getz & Bob Brookmeyer Sextet – Academy of Jazz (COD024) ist ein Reissue des möglicherweise legalen Albums Poljazz SX0681, die zweite Hälfte des Konzertes ist bei West Wind erschienen unter dem Titel Utopia (WW 2076). Die Jazz View CD gibt übrigens „Europe 1970“ als Ort und Datum an – ach was lieben wir unsere Bootlegger!
Die Begleitung ist längst nicht so frisch und vielschichtig wie früher, aber Getz und Brookmeyer haben sich ihre Frische bewahrt und spielen schöne Soli. Die Stücke sind allerdings lang und das Zusammenspiel wesentlich weniger verzahnt. Die Band ist mehr auf Grooves aus als auf komplexe, dichte Musik – Getz versuchte krampfhaft mit der Zeit zu gehen. Aber er und Brookmeyer überragen die musikalische Umgebung immer wieder und ragen mit schönen Statements aus dem Klangbrei hinaus. Laverne bedient die Keys und den Synthesizer zudem mit grad etwa genügend Geschmack, dass das ganze nicht zum Debakel wird… aber das hier sind bestimmt die letzten Getz/Brookmeyer-Aufnahmen, die man haben muss!
Schade, dass niemand auf die Idee kam, in den 80ern, als Getz wieder wunderbare Musik machte und auf elektrische Instrumente verzichtete, ihn und Brookmeyer noch einmal zusammenzubringen!

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