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Lee Konitz ist grossartig, fraglos!
Lieblingsalben… schwierig, „Motion“ mit Sicherheit! Dann „Lee Konitz & Warne Marsh“ auf Atlantic.
Sehr toll ist dann die Begegnung mit dem Gerry Mulligan Quartett (mit Chet Baker), bei Pacific Jazz als „Konitz Meets Mulligan“ erschienen (als 10″ LP, dann erweitert als 12″ LP und später auch auf CD).
Mit Solal find ich wohl die Quartett-Alben mit Henri Texier und Daniel Humair aus Italien (derzeit auf einer CAM-Doppel-CD greifbar das beste, vor den Duos auf MPS, Hat Hut und Horo, und auch vor dem Quartett mit NHOP und Humair aus Antibes (Steeplechase). Sind aber alles gute Aufnahmen!
Die Begegnung mit Mehldau und Haden (es gibt zwei CDs) find ich nur halbwegs gelungen. Bin mir nicht sicher, woran das liegt, wollte sie schon länger mal wieder hören… weiss auch nicht, ob Haden nicht fast zuviel Dreck für Konitz ist.
Was die Abenteuerlichkeit betrifft: die frühen Sessions mit Tristano (v.a. die Capitol-Session mit den wohl ersten [?] gänzlich freien Aufnahmen der Jazzgeschichte) und die eigenen (mit Sal Mosca und Billy Bauer, beides auch Tristano-ites – zu hören auf der CD „Subconscious-Lee“) sind schon ziemlich abenteuerlich. Warne Marsh blieb dann aber dem Tristano-Konzept treuer, hat die rhythmische Fragmentierung weitergetrieben als Konitz sich langsam (schon spätestens um 1953 oder 1954) langsam von Tristano zu verabschieden begann und rhythmisch einfacher, treibender, näher an der Oberfläche swingend zu spielen begann. Die beiden eigenen Atlantic-Alben von Konitz find ich nicht seine besten (schlecht sind sie aber keineswegs), die Verve-Alben werden dann aber immer besser, darunter „Very Cool“ (mit Don Ferrara und Sal Mosca), „Tranquility“ (mit Billy Bauer und Henry Grimes, ohne Piano) und „Konitz Meets Giuffre“ (mit Bill Evans), bis hin zum Höhepunkt, der mit „Motion“ erreicht wurde.
Für Verve nahm Konitz auch mit Streichern und mit einem von Dave Burns geleiteten Ensemble auf (zu finden auf der Doppel-CD „Konitz Meets Giuffre“, auf der zudem auch ein unterkühltes Streicher-Album von Giuffre zu hören ist). Erst in den 90ern erschien auch auf Verve (in der leider sehr kurzlebigen „DiscoVERVEries“-Reihe) eine Doppel-CD mit Live-Aufnahmen aus dem Half Note. Das Quintett, das zu hören ist, ist eigentlich Lennie Tristanos, aber der Leader war abwesend und Bill Evans sprang ein, 1959 grad noch knapp der „frühe“, hart swingende und viel rhythmischer spielende Evans. Zudem hören wir Warne Marsh, Jimmy Garrison und Paul Motian, mit dem Konitz immer wieder zusammentreffen sollte.
Was Konitz in den 60ern und frühen 70ern alles machte, weiss ich nicht so genau, aber 1968 entstanden die erwähnten beiden Alben mit Martial Solal. Sie heissen „European Episode“ und „Impressive Rome“ und sind ursprünglich auf dem Campi-Label erschienen (keine Ahnung, ob das etwas mit Gigi Campi, dem Eisdielenchef und Clarke-Boland-Mastermind zu tun hatte oder nicht).
Ich hab dann aus dieser Zeit auch mal ein paar sehr freie LPs gehört, kann mich aber nicht mehr an Details erinnern (das war vor über 15 Jahren, von einem Musiklehrer am Gymnasium ausgeliehen, mit dem ich noch Kontakt habe, könnte mal nachfragen… vielleicht verwechsle ich das auch teilweise mit Steve Lacy, von dem ich da eine unhörbare LP voller überblasenem Sopransax hatte… der Familien-Hund drehte damals fast durch, als ich die auflegte).
Es entstanden u.a. auch vier Alben für Milestone, das erste von 1967 präsentiert Konitz mit einer Reihe illustrer Duo-Partner: Marshall Brown, Joe Henderson, Richie Kamuca, Ray Nance, Jim Hall, Dick Katz, Karl Berger, Eddie Gomez und Elvin Jones.“Peacemeal“ (1969) präsentiert die Band mit Dick Katz, Brown, Gomez und Jack DeJohnette, auf „Spirits“ (1971) trifft Konitz wieder mal auf Sal Mosca, teils im Duo, teils mit Ron Carter und Mousey Alexander, und auf dem vierten, „Satori“ (1974) ist er mit Martial Solal, Dave Holland, DeJohnette (sowie Katz) zu hören. Alles schöne aber nicht wirklich herausragende Alben.
Ende der 70er leitete Konitz dann ein Nonett, das er in einigen Versionen immer mal wieder aufleben liess. Für Soul Note entstand in Laren ein Live-Album (ich hab die LP, gibt’s demnächst auch in der Black Saint/Soul Note Box).
Danach wird Konitz‘ Diskographie riesig und unübersichtlich, ich hab da erst hie und da an der Oberfläche gekratzt. Z.B. entstehen viele Alben für Steeplechase (ich hab davon bisher nur „Pride“ im Quartett mit George Colligan), Fantasy, Philology, Chesky, Soul Note, Paddle Wheel, Enja und andere, dazwischen auch mal eins für RCA oder eben das zu Recht viel gelobte „Angel Song“ auf ECM (das ich ziemlich klar als Kenny Wheeler-Album höre, auf dem Konitz aber einige der besten Momente beisteuert).
Aus dem späten Werk kenne ich neben den schon erwähnten Sachen noch das tolle „Sound of Surprise“ – die Überraschung des Albums ist der verkannte Veteran Ted Brown, der in den 50ern ein Tenor-Duo der anderen Art mit Warne Marsh leitete und hier mit seinem Spiel zu überzeugen weiss.
Auch „Parallels“ (Chesky) ist gut, Konitz ist da mit dem einzigen „young lion“ (und überhaupt einem der ganz wenigen Tenorsaxer) zu hören, der sich an Marsh orientiert hat, Mark Turner. Sehr schön ist übrigens auch das Duo-Album mit Michel Petrucciani, das 1982 für Owl entstand.
Live gesehen habe ich Konitz zweimal und war beide Male sehr beeindruckt. Das erste Konzert war 1996 (oder 1997?) im Rahmen der „Three Guys“ Tour mit Steve Swallow (elb) und Paul Motian (d). Das Trio spielte in einer seither verschwundenen alten leerstehenden Fabrik, die zu einem Jazzklub umfunktioniert wurde – Konitz spielte unverstärkt in der riesigen Halle und füllte sie locker mit seinem eben nur scheinbar leisen und feinen Ton (der in Wirklichkeit wie z.B. auch Lester Youngs Ton unglaublich tragend ist und immense Projektionskraft besitzt).
Das zweite Konzert ist erst ein paar Monate her und war mit dem Minsarah Trio. Ein wunderbares Konzert, über das ich mich (LINK) schon mal ausführlicher geäussert habe:
Amazing concert last night! As usual with Lee, completely acoustic (except for a pickup and an amp hidden behind the curtain for the double bass), two hours without a break… (they announced it would last 90 minutes). Two or three tunes into the concert, Lee started to take requests, and all the time he was joking with the audience and the guys in the band… some terrific piano playing from this guy Florian Weber, and some very good drumming as well! Ziv Ravitz, the drummer, did one truly great solo on brushes, which sort of made me think of Fred Astaire at his most graceful… the drums really started to dance in my imagination!
They did the usual old hat of tunes, Stella, Valentine, April, Body & Soul, but some of the requests were pretty cool: ‚Round Midnight and Now’s the Time, for instance, the later inspiring Lee to some weird, idiosyncratic yet clearly blues playing, the former leading to a whole new interpretation of the theme… which of course he always does… and Valentine… someone in the audience said „oh, that’s a romantic one“… and the pianist mumbled – I sat in the front row so I could hear it all… – „yeah, I bet it is…“ with a mean grin… and on they went doing a poised mid-up version, morphing into Softly As in a Morning Sunrise halfway through. Lee also did a fantastic duo with the drummer, on some old standard that I couldn’t pin down but recognized… and to end things, they did an amazing take on „Cherokee“ (and as in most themes, Lee just kind of touched the theme here and there, but did all of his own stuff all the way through).
Even though his technique probably isn’t what it was, it’s truly amazing to see how he re-invents himself and this same bag of tunes again and again, after all these years, never playing the same thing twice! And having him play „Now’s the Time“ really made me think… this guy was around when Bird was around! And he’s still doing his thing… now how great is that? A fantastic night!
Das Konzert fand am 30. März 2010 im Moods in Zürich statt. Konitz hatte damals übrigens schon die zweite CD mit dem Minsarah Trio im Gepäck, ich habe aber bisher keine der beiden.
Was mir an Konitz in all den Jahren am besten gefällt und ich auch für seine grösste Leistung halte, ist, dass er ein zu 100% (na ja, sagen wir 99%) Lick-freier Improvisator ist, der sich selbst und sein Publikum damit immer wieder mit Neuem überrascht, nie in einen bag of tricks fällt, den es bei ihm schlicht nicht gibt. Bei ihm hört man Musik, die genau in dem Moment entsteht, in dem man sie hört (das funktioniert auch auf CD, solange man sie nicht so oft hört, dass man die Soli auswendig kennt).
Lee Konitz‘ Tage auf Erden mögen nicht mehr sehr lange dauern, er war letzten März schon sichtlich geschwächt und spielte im Sitzen, hatte zuvor schon gesundheitliche Probleme – man soll ihn also unbedingt hören gehen, wenn man die Gelegenheit dazu hat!
Seine Musik allerdings, das kann man wohl schon seit Jahrzehnten völlig ohne Bedenken sagen, wird unsterblich sein!
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