Re: john lenwood "jackie" mclean

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IT’S TIME (1964)
ACTION (1964)
RIGHT NOW (1965)
CONSEQUENCE (1965)
JACKNIFE (+ HIGH FREQUENCY, 1965/66)

diese sechs Alben/Sessions gibt es gesammelt in:
THE COMPLETE BLUE NOTE 1964-66 JACKIE McLEAN SESSIONS (Mosaic, 4CD, 1993
die zweite Session des Doppel-Albums JACKNIFE (HIGH FREQUENCY) ist ausserhalb der Mosaic-Box nie auf CD erschienen

ausserdem:
Lee Morgan – TOM CAT (1964)
Lee Morgan – CORN BREAD (1965)
Lee Morgan – INFINITY (1965)
Lee Morgan – CHARISMA (1966)

Am 29. Januar 1965 stand McLean zum nächsten Mal im Studio von Rudy Van Gelder, diesmal im Quartett. Das Resultat, RIGHT NOW!, sollte das zweite von drei Meisterwerken in dieser Besetzung sein, die McLean für Blue Note einspielte. Das Album hat eine etwas tiefere Katalognummer als ACTION und mag kurz davor erschienen sein, jedenfalls waren es bloss diese drei, die damals erschienen sind, zwei der restlichen drei Sessions erhielten zwar Katalognummern und Titel, aber alle drei erschienen sie erst eineinhalb Jahrzehnte später, als Michael Cuscuna mit seinen Archiv-Ausgrabungen zugange war.

Larry Willis war zum Zeitpunkt der Aufnahmen erst 22 Jahre alt, hatte an der New Yorker High School of Music and Art und an der Manhattan School of Music studiert, Privatstunden bei John Mehegan gehabt, aber seine profesionelle Erfahrung beschränkte sich auf Auftritte mit seinem Schulkollegen Hugh Masekela. McLean, der den jungen Pianisten schon länger unter seine Fittiche genommen hatte, habe sich, so Rosenthal in seinen Liner Notes zum Mosaic-Set gegenüber Phyl Garland (wohl in den ursprünglichen Liner Notes zum Album, die mir leider bei all diesen Sessions nicht vorliegen) so geäussert: „I’ve been watching Larry’s career since he was eighteen or so. I started using him on some of my gigs, most of which have been in and around New York. I figured the time had come for hime to have a broader exposure.“

Willis‘ Einflüsse sind wenig originell: Wynton Kelly/Bill Evans als Grundlage, dazu Herbie Hancock und McCoy Tyner – doch was zählt ist natürlich, was er daraus macht, und der junge Pianist wächst hier förmlich in die Musik hinein und wird zum wichtigen Partner von McLean, kühlt dessen Höhenflüge mit lyrischeren Passagen etwas ab, bildet einen Gegenpol ähnlich wie Tyner ihn oft für Coltrane bildete.

Los geht es rasant mit „Eco“ aus McLeans Feder. Das Stück wechselt zwischen einem zickigen Swing mit chromatischen Changes und einem Orgelpunkt, der heftig Spannung bildet. Drummer Clifford Jarvis macht seine Präsenz umgehend spürbar, sein Spiel erinnert ein wenig an Roy Haynes‘ Auftritt auf IT’S TIME, aber Jarvis ist freier, sein Swing lockerer, er hat wohl auch fleissig Elvin Jones gelauscht. McLean nutzt die Struktur des Stückes und spielt ein langes, intensives Solo. Vor allem in den Suspension-Teilen greift Jarvis in die Vollen, während Bob Cranshaw am Bass in den Swing-Teilen für einen festen Puls sorgt. Willis‘ Akkorde erinnern tatsächlich an Tyner, die Ruhe mittem im Auge des Sturmes. Er soliert dann gegen Ende auch noch, nutzt die Struktur des Stückes zum Wechsel von linearen Motiven (im Swing) und akkordischen, rhythmisierten Passagen (über den Orgelpunkt, der allerdings hier eher zum Schlagzeugsolo wird, Cranshaw geht da etwas unter, er müsste ja nur die Eins markieren, aber Jarvis Basstrommel macht ihm einen Strich durch die Rechnung).

Es folgt das über zehn Minuten lange „Poor Eric“ aus der Feder des Pianisten, natürlich Eric Dolphy gewidmet, McLean spielt mit zartem Ton, präsentiert das Thema gemeinsam mit Cranshaws gestrichenem Bass, während Willis zunächst auf jeden Viertel Akkorde spielt, dann wechselt Cranshaw zum Pizzicato, Jarvis fällt mit ihm in einen langsamen Beat und Willis beginnt, McLean einfühlsam zu begleiten, seine Linien aufs schönste einzubetten. Dann zurück zum gestrichenen Bass, unisono mit McLean, der im Anschluss zu einem grossartigen Balladensolo ansetzt, streut zwar auch raschere Läufe ein, spielt aber mit der Geduld und dem Timing eines alten Meisters, schafft Intensität allein durch seine Linien, ganz ohne Tricks, ohne seinen Ton aufzurauhen. Willis folgt, der wiederum von Cranshaw stark begleitet wird, es entspinnt sich ein Dialog, in dessen Verlauf der Bassist die Gedanken des Pianisten zu beenden scheint. Das Thema wird dann in ganzer Länge wiederholt – und da es die ganze Performance so sehr prägt in seinem statischen Gestus, man es eigentlich sowieso nie vergisst, passt das auch sehr (leider sitzt Jarvis hier wohl auf seinem Quieke-Stuhl – gegen Ende stört das ein wenig).

Obwohl der Opener nur sechseinhalb Minuten kurz ist, besteht das Album nur aus vier Stücken und weicht damit ein wenig vom üblichen Blue Note Schema ab (2 x 10 min + 3 x 6/7 min bzw. 6 x 6 min). Die zweite Hälfte öffnet mit Willis‘ zweitem Stück, „Christel’s Time“, das nach dem gleichen Schema wie McLeans „Eco“ konstruiert ist: Passagen mit Akkorden und 4/4-Swing wechseln sich mit Passagen mit aufgehobenen Changes und einem Orgelpunkt ab. Auch das letzte Stück des Albums, Charles Tollivers „Right Now“, läuft nach demselben Schema ab. Dieses Konstruktionsprinzip erlaubt es dem Quartett, grosse Spannung aufzubauen, ein Gefühl der Offenheit und Ungewissheit zu erzeugen, das Erwartungen weckt, aber auch Unsicherheit erzeugt – sehr packend! In „Christel’s Tune“ soliert McLean nach dem Klavier noch ein zweites Mal, danach spielt Jarvis (der sich in den Suspension-Passagen etwas mehr zurückhält) ein tolles Solo. Von Tollivers Stück, das mit einem tollen Groove und einer catchy Linie aufwartet, gibt es zwei Takes zu hören, der fast zwölf Minuten lange Alternate Take entstand unmittelbar nach dem Master (9:20 lang). McLean spielt in beiden Takes überragend, Jarvis begleitet ihn wieder engagiert, während die Suspension-Passage diesmal durchgängig von einem Bass/Piano-Lick begleitet wird, was die Musik nochmal intensiver macht (und Jarvis überhaupt nicht zu Zurückhaltung führt).

Dieses Album ist schlichtweg grossartig, eins von McLeans Meisterwerken! Das Quartett-Line-Up gibt ihm viel Raum, den zu nutzen er mehr denn versteht, die Rhythmusgruppe und das Material sind erstklassig. Zudem ist das Album ein weiteres Beispiel dafür, dass ich aufhören sollte, Bob Cranshaw zu unterschätzen (wenigstens solange er noch Kontrabass spielte) – er mag nicht den tollsten Ton haben, aber macht einen hervorragenden Job, wie schon auf der letzten Session (der Kontrast zu McBee auf der Session dazwischen, der auch den Sound und das Volumen, den Wumms hat, ist jedoch schon recht deutlich).


Jackie McLean und Larry Willis im Van Gelder Studio am 24. September 1965, Session für JACKNIFE
(Photo: Francis Wolff)

Die nächsten beiden Termine in Van Gelders Studio blieben ergebnislos. Ende Juli fand McLean sich mit Tolliver, Hutcherson, Larry Ridley und Jack DeJohnette im Studio ein (ausser Hutcherson tauchen sie alle wieder auf erfolgreichen Sessions auf), „Climax“ und „On the Nile“ wurden gespielt, im September folgte erst die Session, bei der die Stücke sowie drei weitere aufgenommen wurden.

Am 17. September fand McLean sich mit Lee Morgan bei Van Gelder wieder, ebenfalls dabei der Rest der Gruppe, die am folgenden Tag Morgans CORNBREAD einspielte: Hank Mobley, Herbie Hancock, Ridley und Billy Higgins. An diesem ersten Tag wurden Rejects von „Most Like Lee“ und „Our Man Higgins“ aufgenommen, die Session danach wohl vertagt. Am 18. September fand dann die Session statt, die auf dem Album landete. 1966 war Morgan als Leader unterwegs, im Juni hatte er im Slugs‘ gespielt, Hank Mobley und Billy Higgins waren damals mit dabei. McLean, Hancock und Ridley wurden für die Session dazugeholt.

Nach dem sehr freien und dennoch sehr heissen Groove von RIGHT NOW! ist der Opener, das Titelstück des Album, ein kleiner Schock in zwölft Takten. Lee Morgan mochte seine Grooves tighter, organisierter. Rollendes Piano, ein Bass-Lick, ein fetter Backbeat, darüber das kleine Motiv der Bläser, das am Ende in eine Art Fanfare aufgeht, Breaks inklusive … make no mistake: auch das ist die grosse Kunst des Hard Bop, unspektakulär, funky, Musik für den Bauch mehr als für den Kopf, doch setzt man sich hin und hört zu gibt es viel zu entdecken. Morgan spielt das erste Solo, ist in bester Laune, spielt mit kleinen Motiven, aus denen er in rasante Linien ausbricht, um zu stark rhythmisierten Passagen zu finden, dabei streut er immer wieder ein paar verhuschte Tönen neben der üblichen Stimmung ein. Mobley folgt, funky und erdig. Danach McLean, auch er ein ausgewiesener Bluesspezialist. Sehr toll über die ganze Länge Billy Higgins, aber auch Hancock gelingt trotz der klischierten Funk-Einwürfe, die er immer wieder von sich gibt eine abwechslungsreiche Begleitung – und ein tolles Solo, als die Reihe an ihm ist.

Die zweite Seite endet mit „Our Man Higgins“, einem Stück das wie ein Überbleibsel der Bebop-Ära klingt, hektische umherspringende Bläser-Riffs, punktiert von Higgins‘ Schlagzeug (shades of Klook). McLean soliert als erster, zunächst ohne Klavierbegleitung, und das Solo ist hervorragend, sehr boppig, gradlinig. Es folgen Morgan und Mobley, ersterer erinnert an die Antics der grossen Bebop-Trompeter Dizzy Gillespie und Fats Navarro. Mobley spielt mit dem Beat, phrasiert hinterher, holt auf, sticht mittenrein, scheint die Changes förmlich zu fressen. Hancock beschwört dann eine geheimsvolle Stimmung, die ein kurzes Higgins -Solo lanciert, aus dem es direkt ins Thema übergeht. Eine ziemlich ungewöhnliche Performance, die vor Augen führt, wie eng die Hard Bopper dem Bebop verbunden waren. Live scheinen Bebop-Nummern ja immer eine Rolle gespielt zu haben, aber im Studio wurde meinst anderes Material gewählt.

Die zweite Seite öffnet mit dem schönsten Stück des Albums und einer von Lee Morgans schönsten Kompositionen überhaupt, dem Bossa „Ceora“. Hancock spielt ein tolles Klavier-Intro, von Ridleys Bass und Higgins feinem Beat. Dann präsentiert Morgan das Thema gemeinsam mit Mobley, sie schieben den Lead hin und her, Mobley spielt eine zweite Stimme, Hancock wird eingebunden. Dann setzt Morgan zum Solo an, zart, behutsam und unglaublich schön. Mobley folgt, beweist einmal mehr sein Können als Balladenkünstler (und zeigt, dass er sich in dieser Phase intensiv mit Coltrane befasst hat). Hancock spielt das letzte Solo, impressionistisch, zurückhaltend, recht flächig und für seine Verhältnisse sehr akkordisch. Dann folgt wieder das Thema.

Auch auf dem nächsten Stück ist McLean nicht zu hören – er ist diesmal in den Bläsersätzen im Hintergrund dabei, soliert aber nicht. „Ill Wind“ wird über einen langsamen Halftime-Beat gespielt, Morgan präsentiert das Thema mit Dämpfer, sehr aufmerksam von Hancock begleitet. Die Bridge gehört dann Mobley, der sich sehr zurückhält, mit flachem Ton spielt. Hancock kriegt dann einen ganzen Chorus, spielt ein tolles Solo, in dem er von Linien zu Akkorden findet, etwas Blues einstreut, auf „It Might as Well Be Spring“ verweist … dann folgt Lee Morgan, immer noch mit Dämpfer und wieder bezaubernd.

Das Album endet mit „Most Like Lee“, dem vierten Original von Morgan, das wie ein typischer Rausschmeisser beginnt, aber mit einer überraschenden Bridge über einen Latin-Beat aufwartet. Mobley soliert als erster, lässt sich auf das Staccato des Themas ein und kostet dann das hohe Register seines Instrumentes aus (Coltrane lässt erneut grüssen). Morgan folgt, wieder am offenen Horn mit rundem Ton, dann McLean in seiner direkten, zupackenden Art. Ridley spielt hinter ihm und dann auch hinter Hancock einen Walking Bass, der oft nicht präzise phrasiert scheint, was im Zusammenspiel mit Higgins tollem Beat aber für einen guten Effekt sorgt. Er kriegt dann auch sein einziges Solo der Session.

Das Album gefällt mir gut, ist aber nicht mein liebstes von Morgan – überhaupt ist Morgan ein Musiker, den ich insgesamt wohl mehr schätze als ich seine einzelnen Alben schätze. Es mag aber auch am Klang meiner sehr alten CD liegen (McMaster, EMI/Manhattan 1988), die in den Bässen sehr dünn klingt – ich bestelle mir mal die SHM-CD so lange das noch geht (leider bereits vergriffen, also nicht billig).

David Rosenthal schreibt im Booklet der Mosaic-Box folgende Zeilen zu Morgan und McLean:

David RosenthalWhile McLean’s and Morgan’s musical personalities were not identical – for one thing, Morgan’s work is pervaded by a slyly sardonic sense of humor, whereas McLean is relatively humorless – both were the baddest things going on their instruments. Like McLean (or like James Brown in soul music), Morgan had honed his time, attack, and timbre to razor sharpness. his style, like McLean’s, was searingly expressive.

Morgan und McLean waren sechs Tage später schon wieder bei Van Gelder im Studio. Am 24. September wurde ein Album eingespielt, das bereits eine Katalognummer und einen Titel erhielt, aber nicht erscheinen sollte: JACKNIFE. Nach dem relativ engen Fokus von RIGHT NOW! öffnet sich hier McLeans Musik wieder, Charles Tolliver ist erneut mit dabei, ebenso Larry Willis und Larry Ridley, am Schlagzeug hören wir erstmals Jack DeJohnette.

Los geht es mit Tollivers „On the Nile“ und wir sind sofort in media res. Das Thema erinnert mit seinen exotischen Klängen an Coltranes Versuche mit iberischen oder nahöstlichen Klängen. Nach einer Fanfare von Tolliver und McLean, von Klavierclustern und Schlagzeugklängen umrahmt, fällt DeJohnette in einen Beat, Ridley und Willis stossen dazu, die unregelmässige Basslinie mit ihrer Melodik und die Klavierakkorde erzeugen Spannung, danns stossen die zwei Bläser dazu und spielen die sich langsam nach oben schaffende Linie. McLean setzt dann zum ersten kurzen Solo an, hervorragend von Ridley begleitet, dann kehrt das Ensemble zurück, bevor McLean in die nächste Runde geht. Ridley/DeJohnette funktionieren, das erweist sich schnell, genau so gut wie Cranshaw/Jarvis, aber sie halten den Beat eine Spur härter, zupackender. McLeans langes, intensives Solo scheint eine grossangelegte Hommage an Coltrane zu sein, jedenfalls eine weitere Sternstunde dieser grossartigen Karriere-Phase. Auch Tollivers Solo wird wieder vom Ensemble lanciert wie zuvor bei McLean – er trillert, spielt lange Linien in der hohen Lage, bricht in schnelle Läufe aus, lässt sich ins mittlere Register fallen um sich danach wieder in die Höhe zu schwingen – wie ein Raubvogel. Es folgt Willis, auch er vom Ensemble lanciert, er geht von wenigen Ideen aus, die er repetiert, verschieb, variiert. Ridley lässt seinen Bass hinter ihm in der tiefsten Lage singen und sein Solo kündigt sich bereits an, bevor Willis durch ist. Er bleibt in der tiefen Lage, das von den Bläsern hinterlegte Thema hat etwas fast Gespenstisches. Es wird nach dem tollen Bass-Solo rekapituliert und nach zwölfeinhalb Minuten verklingt diese grandiose Performance.

Das zweite, ebenfalls lange, Stück stammt von Jack DeJohnette und heisst „Climax“. Hier ist Lee Morgan an der Trompete zu hören. Die Rhythmusgruppe öffnet mit einem nervösen Shuffle-Beat in schnellem Tempo, dann steigen Morgan und McLean mit ihrem wirlkich überragenden Unisono-Spiel ein und spielen die einfache Linie aus langen Tönen, bevor es zu einem Zwischenhalt kommt, in dem wieder leicht spanische Klänge zu vernehmen sind. McLean und Morgan spielen beide hervorragende Soli. McLean verzahnt sein Spiel eng mit dem nervösen Beat, verbeisst sich in die Changes, Morgan steigt leichter ein, engagiert Willis in einem Dialog, schwebt dann über der Rhythmusgruppe, in der DeJohnette immer aktiver wird. Es folgt ein langes Solo von Willis, der wieder den ruhenden Pol gibt, ohne aus der Stimmung auszubrechen. DeJohnette, der sich anfangs zurückhält, wird immer dichter in der Begleitung und rutscht schliesslich fast unmerklich in sein eigenes Solo hinein, das er sehr geschickt zurück ins Thema dirigiert.

Die andere Albumhälfte sollte drei Stücke umfassen (ob da jemals eine Reihenfolge feststand weiss ich nicht, aber wir sind hier wieder in etwa beim Blue Note-Schema von 2 x 10 min + 3 x 6 min). Lee Morgans „Soft Blue“ ist das einzige Stück mit beiden Trompetern. Ridley spielt eine herumspringende Basslinie, Willis rollende Akkorde, DeJohnette irgendwas zwischen Latin und Backbeat, die Bläser präsentieren dann gemeinsam und ziemlich zurückhaltend das Thema. Morgans Solo beginnt mit einem Paukenschlag: effektive Solo-Eröffnungen waren eine seiner Stärken und der Kontrast zum Thema ist gross. Es folgt McLean, und wurde hinter Morgan vor allem DeJohnette aktiv, so ist es jetzt an Ridley, sein Basslick zu verändern und Impulse zu geben. Tolliver ist nicht zu beneiden nach den zwei Vorrednern, doch er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, spielt ein schönes Solo, etwas wärmer, mit etwas offenerem Ton als sonst. Es folgt Willis, hinter dem Ridley so aktiv wird, dass fast ein Dialog entsteht. Dann – Lee Morgan war alte Schule – erklingt ein Shout Chorus, in dem sich die Riffs der Bläser aufs Schönste mit den Piano-Akkorden von Willis verzahnen. Danach geht es zum Thema zurück, das dann ausgeblendet wird.

Es folgt Tollivers zweiter Beitrag zur Session, das designierte Titelstück „Jacknife“, ein Thema in Moll in rasantem Tempo, in dem McLean sofort ins erste Solo stürzt, atemlos und doch mit einer Kraft und Ruhe, die aus einer inneren Überzeugung und Sicherheit stammen muss. Er unterbricht seinen Flug immer wieder mit kleinen Motiven, an denen er sich festbeist, von DeJohnette angetrieben. Tolliver folgt, lässt sich anstecken, spielt von Beginn an sehr intensiv. Dann folgt ein Solo von Willis und schliesslich die Rekapitulation des Themas.

In McLeans Stück „Blue Fable“ ist dann wieder Lee Morgan zu hören, das Thema mit seinen absteigenden Akkorden könnte auch von Sonny Clark stammen. McLean und sind wieder auf der Suche nach ihrem gestählten Lyrismus. McLean soliert als erster, erneut hervorragend begleitet von DeJohnette und tief eintauchend in den Groove, eine Anspielung auf „Why Don’t You Do Right“ gibt es frei Haus. Dann folgt Morgan, etwas abgeklärter, ruhiger zunächst, doch er lässt sich von der Rhythmusgruppe aus der Reserve locken. Hinter Willis fällt Ridley zunächst in ein simples Motiv, DeJohnette schraubt Lautstärke und Intensität herunter, doch bald verzahnen sich die drei wieder ineinander. Mit der Wiederholung des Themas endet ein weiteres grossartiges Album – es hat nicht die Dichte und Kohärenz des viel „enger“ angelegten RIGHT NOW!, aber es bewegt sich nahezu auf demselben Niveau.

Das nächste Album entstand am 16. November 1965, Lee Morgan war wieder der Leader, doch auch Larry Willis ist wieder mit dabei. Am Bass hören wir Reggie Workman, am Schlagzeug ist Billy Higgins zurück, der auf fast jedem Blue Note-Album der Sechziger zu hören ist. Die Stimmung ist auf INFINITY naher bei den vorangegagenen McLean-Sessions als bei CORNBREAD – vielleicht war das der Grund, dass auch dieses Album erst in der LT-Serie erschien?

Das Titelstück kommt mit einem hypnotischen modalen Groove daher, Workman rifft am Bass, Higgins trommelt entfesselt, Willis sorgt für den harmonischen Kern – und Morgan und McLean für grossartige solistische Momente. Das Stück hat zwar eine gewöhnliche AABA-Struktur, doch dauern die A-Teile jeweils 14 Takte, die in 6 und 8 aufteteilt werden können. Ein faszinierendes Stück und neben dem folgenden „Growing Pains“ wohl eines der ambitioniertesten aus Morgans Feder. Nach den fesselnden Bläsersoli ist Willis an der Reihe und spielt ebenfalls ein hervorragendes Solo. Er bleibt motivisch wieder einfach und legt sein ganzes Augenmerk auf den Groove, lässt seine rechte Hand aber nie davon einengen. Morgan folgt mit einem zweiten Solo, das zu Higgins überleitet, bevor das Thema wiederholt wird und über der riffenden Band ausgeblendet wird.

Die erste Hälfte des Albums endet mit Morgans entspannter Groove-Nummer „Miss Nettie B“. Workman spielt ein hypnotisches Bass-Motiv, die Atmosphäre erinnert ein wenig an „All Blues“. Morgan setzt zu einem grossartigen Solo an, frech und aufmüpfig, grossspurig, angeberisch und doch immer mit Witz, mit einem Augenzwinkern. McLean hält sein Solo kürzer, spielt sehr präzise Linien, die nahezu geplant wirken – und wird sehr emotional. Willis folgt, bluesig, funky. Dann wird das Thema wiederholt, doch der Groove ist zu gut, um einfach aufzuhören. Über dem Bass-Lick, dem tremolierenden Piano und Higgins‘ Beat setzt Morgan noch einmal zu ein paar Schlenkern an, schliesslich wird ausgeblendet.

Das nächste Stück, „Growing Pains“, ist vielleicht Morgans anspruchsvollste Komposition, auch dies eine AABA-Form, die A-Teile aber jeweils auf 10 Takte erweitert. Zwar öffnet wieder die Rhythmusgruppe mit einem tollen Groove, doch bald steigen die Bläser mit Kantigen Gegenlinien und die Rhythmusgruppe wechselt in einen 4/4, der jeweils für die letzten vier Takte der A-Teile wieder in den Latin-Groove fällt. McLean soliert als erster, ist sofort bei der Sache und spielt ein phantastisches Solo, das die Changes auskostet aber sich auch von ihnen wegbewegt. Higgins begleitet einmal mehr überragend. Morgan folgt, übernimmt McLeans letzten Ton und erklimmt einen Höhepunkt nach dem anderen. Beide Solisten entpuppen sich als Meister der langen Linien, die dem engen, zerklüfteten Thema entgegengestellt werden, die aber auch immer wieder durch kurze Einwürfe unterbrochen werden. Auch Willis kommt problemlos zurecht mit der ungewöhnlichen Form (die aber auch auf der ganzen Länge von Higgins und Workman mit den jeweils vier Takten im anderen Beat verdeutlicht wird). Schliesslich kriegt auch Workman ein Solo, bevor das Stück mit der Wiederholung des Themas endet.

Es folgt das einzige Stück des Albums, das nicht Lee Morgan komponiert hat, McLeans „Portrait of Doll“, seiner Herzensdame gewidmet. Das Thema hat einen verspielten 3/4-Einschub, ist aber sehr introspektiv – und hervorragend arrangiert, nicht nur für die Bläser sondern auf für Klavier, Drums und den gestrichenen bzw. gezupften Bass. Morgan und Willis spielen schöne Soli, doch das Highlight stammt von McLean selbst.

Den Abschluss macht dann der schnelle Blues „Zip Code“ mit einem charmanten und überraschenden Thema. Wie McLean und Morgan die vertrackte Linie gemeinsam präsentieren ist wieder erste Sahne, auch wenn eine halbe Stunde Proben noch etwas geholfen hätte. McLean spielt das erste Solo und geht wieder sofort in die Vollen, von Workman sehr aktiv begleitet. Morgan folgt und präsentiert sein makelloses Können in der hohen Lage, sein Spiel ist auch da präzis und der Ton gerundet. Hinter ihm ist es vor allem Higgins, der kickt. Es folgt Willis mit einem guten Solo und dann ein paar animierte Runden mit Higgins und Morgan, bevor das Album mit der Wiederholung des Themas endet.

Mit dem nächsten Album, CONSEQUENCES, bleiben wir gewissermassen in der verkehrten Welt: nach dem ordentlich abenteuerlichen Morgan-Album folgt ein weiteres der beiden Bläser unter McLeans Namen, das eher in die traditionellere Richtung ausschert. Harold Mabern, Herbie Lewis und Billy Higgins sorgen für die Erdung. Auch diese Session blieb der Jazzgemeinde eineinhalb Jahrzente lang vorenthalten. Morgans Opener „Bluesanova“ hält nicht, was der Titel verspricht. Wir hören zwar Blues-Changes, aber Higgins‘ Beat ist viel zu hektisch und zu dicht, als dass auch nur das geringste Bossa Nova-Feeling aufkommen könnte. Morgan und McLean spielen gute Soli, letzterer von Higgins ganz besonders gekickt. Mabern begleitet anders als Willis, ihm geht die lyrische Seite eher ab, seine Compings sind zupackender, direkter, blumiger. Nach seinem zweihändigen Klaviersolo folgt ein kurzer, intensiver Austausch von Morgan und McLean. Mit der Rekapitulation des Themas – Higgins bombardiert den Bossa – endet das Stück.

McLeans „Consequence“ ist ein Staccato-Thema über einem lebendigen Higgins, ein Cooker. McLean übernimmt das erste Solo. Higgins ist überragend, spielt mit dem Puls, verhakt sich mit McLean – und spielt wie immer mit grosser Eleganz und Leichtigkeit. Morgan übernimmt, spielt enge, repetitive Phrasen, bricht aus in rasante Linien, die in Stotterphrasen münden. Danach Mabern, diesmal subtiler, melodischer – doch mein Favorit, das liest man zwischen den Zeilen wohl bereits heraus, wird er nie werden. Umwerfend dann Morgans Einstieg in die Fours, die die Bläser mit Higgins wechseln.

Weiter geht es mit dem zweiten – und letzten – Standard dieser Sessions (auf den Morgan-Alben gibt es auch nur einen weiteren), „My Old Flame“ – er wurde am Ende der Session eingespielt und die Band spielt unglaublich entspannt auf, ohne das Ziel – Swing, Kohärenz – je aus den Augen zu verlieren. Im Thema kriegt Morgan die Bridge, das Arrangement ist erneut sehr gut gemacht: das Intro mit einem einfachen Bläser-Motiv klingt in der Rhythmusgruppe auch während des Themas an und wird nach der Vorstellung des Themas wiederholt, bevor es in die Soli geht. McLean spielt das erste Solo – und es ist perfekt. wie er beschleunigt, verlangsamt, Pausen einsetzt, die Musik atmen lässt, wie seine Linein auf die Changes, den Groove abgestimmt sind. Es folgt Mabern, ich habe den Impuls zu sagen: netterweise hält er sich zurück und macht nichts kaputt – doch nein, sein reduziertes Solo fügt sich wunderbar ein. Dann folgt Morgan, kriegt nur wenige Takte, aber die nutzt er. Die Rhythmusgruppe fällt eine Art Stoptime (aber auf jeden Viertel). Dann endet das Thema mit McLean, der am Ende über das Riff der anderen weitersoliert, worauf das Stück schliesslich ausgeblendet wird – ein Höhepunkt da, wo man ihn kaum erwartet hätte!

Auch die zweite Hälfte dieser Session umfasst drei Stücke. Den Auftakt mach „Tolypso“, eine Calypso-Nummer von McLean, in der die Bläser ein Frage- und Antwort-Spiel mit dem Klavier und – es ist ein Blues mit Bridge – mit sich selbst treiben. McLean soliert dann sehr laid-back, über dem halben Tempo natürlich (warum Rosenthal das in seinen Liner Notes zur Mosaic-Box erwähnenswert findet, weiss ich nicht, aber bei der Art Groove ist das das Natürlichste der Welt). Morgan folgt, auch er nachdenklich, doch frecher und verspielter als McLean – ganz wie es halt der beiden Naturell als Musiker entsprach. Higgins spielt einmal mehr toll, diesen karibischen Groove hat er wirlkich toll drauf. Mabern kommt mit dem Groove ebenfalls bestens zurecht, und in seinem erneut reduzierten Solo wird auch der tolle Bass, den Herbie Lewis spielt, wieder deutlich. Um den Mann herum könnte wohl die Welt im Emmerich-Stil zerfallen, er würde den Groove bis zum Schluss fehlerfrei und felsenfest durchziehen.

Weiter geht es mit dem zweiten Morgan-Original der Session, „Slumber“. Es handelt sich dabei um ein Remake von „Waltz for Fran“ vom Riverside-Album TAKE TWELVE – doch diesmal ist der Dreier nur angedeutet, gespielt wird das Stück nämlich in Vier. Morgan spielt ein berührendes, sehr vokal (denke: Torch Song) gestaltetes Solo. McLean als Billie Holiday-Mann ist das natürlich nicht fremd, aber sein Solo klingt hier eine Spur zu ruppig, zu zupackend, um sich in die zauberhafte Stimmung, die Morgan schuf, einzufügen. Mabern gelingt dies dann wieder erstaunlich gut,

Den Abschluss macht McLeans „Vernestune“, eine zupackende, schnelle Nummer zum Schluss, wie es inzwischen fast schon zur Regel geworden ist. Wer Verne ist, weiss ich nicht – Andrew Hills Frau hiess LaVerne und Hill widmete ihr ein Stück namens „Verne“. Ob sie gemeint ist? Jedenfalls präsentieren die Bläser das Stück unisono, die Rhythmusgruppe ist durch das ganze Thema hindurch arrangiert. McLean hebt dann ab zum ersten Solo und fliegt buchstäblich durch die Lüfte – natürlich ohne je den Kontakt zur Erde zu verlieren, was McLean ja gar nicht konnte. Auch Morgan spielt ein Solo voller Einfälle, wie bei McLean ist das alles pefekt umgesetzt – und das ist es wohl, was Rosenthal im oben hervorgehobenen Zitat meint. Eine Qualität, die auch unter Profis nicht vorausgesetzt werden kann (heute vielleicht schon, aber dafür hat man die Seele dem Computer verkauft oder dem Buchhalter). Mabern spielt erneut ein ziemlich ansprechendes Solo – ich frage mich gerade mal wieder, was ich eigentlich für ein Problem mit ihm habe, aber ich weiss auch, dass ich das sofort wieder weiss, wenn ich eins seiner Alben auflege … so ist da halt. McLean spielt ein kurzes zweites Solo und dann endet das Album mit der Wiederholung des Themas.

Hier die Originalcover aus der LT-Serie von INFINITY (links) und CONSEQUENCE:

Das nächste Album erhielt wie JACKNIFE eine Katalognummer und wohl auch einen Titel: HIGH FREQUENCY. Es erschien zusammen mit JACKNIFE auf dem so betitelten Doppel-Album in der Blue Note Classics-Reihe (die direkt vor der LT-Serie lief). Es handelt sich dabei um ein weiteres Album in Quartett-Besetzung, erneut mit Larry Willis am Piano. Jack DeJohnette spielt wieder Schlagzeug, das neue Gesicht ist der Mann am Bass, Tieftöner Don Moore – er hatte u.a. mit Don Cherry, John Tchicai und Archie Shepps Gruppe The New York Contemporary Five gespielt, einer der ersten Avantgarde-Gruppe in der Nachfolge von Ornette Coleman und Cecil Taylor. Dieses Album ist soweit ich weiss bis heute nur auf dem abgebildeten Twofer oder der Mosaic-Box greifbar.

Den Auftakt macht Willis‘ Titeltrack „High Frequency“, eröffnet von einer kurzen, hektischen Passage, auf die dann eine langsame folgt, bevor die schnelle wiederholt wird. DeJohnette soliert ein paar Takte, etabliert einen Groove, der etwas langsamer wird, sich auflöst. Klaviertupfer, Bassgirlanden, Beckenschläge – ein Trommelwirbel, und das schnelle Motiv kehrt zurück. Nach mehr Rubato fällt die Gruppe nach zweieinhalb Minuten in einen swingenden 4/4 und McLean setzt zum Solo an. Er lässt sich viel Zeit (das Stück dauert fast elfeinhalb Minuten) und nutzt wieder Coltranes Stil, um diesen im Wechsel mit seinem eigenen zu einem grossartigen Statement zu nutzen. Er antwortet sich selbst, seufzt zwischen den Phrasen, geht auf DeJohnettes unkonventionelle Kommentare ein, fällt ins kreischende Falsett und dann ins tiefe Register, wo er die Töne grunzt (das ist dann Coltrane von 1966!) eher denn spielt, erhebt sich wieder, verzahnt sich in einem kleinen Motiv, motiviert sich selbst mit seinen kurzen Zwischenrufen … nur um wenig später in eine ruhige Passage zu wechseln, DeJohnnette reagiert sofort und baut erst allmählich, gemeinsam mit McLean und Willis, wieder auf. Willis folgt mit einem guten Solo, stark akkordisch und rhythmisch, sich perfekt in die Stimmung einfügend. Nach einem Schlagzeugsolo folgt das schnelle Kürzel aus dem Thema und Finis.

„Combined Effort“ ist das zweite Stück des Albums und stammt aus McLeans Feder. Es beginnt Marsch-ähnlich, doch fällt dann in einen 4/4 – während Willis beim Marsch-Feeling bleibt, um McLeans Solo zu lancieren. Dieser scheint erneut eine exotische Skala zu spielen, von der er sich dann allmählich freispielt. Willis setzt dann längere Zeit aus und lässt McLean mit Moore/Higgins alleine – ich mag den Begriff dafür, „strolling“: der Solist darf etwas streunen, denn der Zaun (aka Piano) ist für einmal weg. Doch Willis ist nun wirklich kein einengender Pianist und sein Wiedereinstieg dient der Steigerung, dem dramatischen Effekt, nicht der Domestizierung. McLean steigert sich in ein zerklüftetes Solo voller Kürzel, kleiner Motive, einzelner Töne. DeJohnette treibt ihn an, aber auch Willis tritt in den Dialog, aus dem für einen Moment ein Dreiergespräch wird, während Moore am Bass die Verlässlichkeit in Person ist. Er ist es ja gewohnt, in unruhigen Settings zu spielen. Dann fällt Willis wieder in den Marsch-Groove, McLean ins Falsett, und so endet allmählich sein Solo, punktiert von Moore, doch Willis ist der nächste Solist und zeigt erneut, warum McLean ihn in dieser Phase so oft am Klavier hinter sich haben wollte. Der Leader gönnt sich danach eine zweite Runde, vor allem im tiefen Register und dicht verzahnt mit der tollen Rhythmusgruppe, über deren Marsch-Groove das Stück dann ausgeblendet wird.

Die zweite Hälfte besteht aus drei Stücken, den Auftakt macht das atmosphärische „Moonscape“ von McLean (ich tippte gerade „Moon Walk“, ganz popfrei bin ich halt auch nicht) – das anfangs sehr langsame Tempo wird allmählich mutiert allmählich in einen mittelschnelle „walking ballad“. McLeans Solo ist einmal mehr grossartig. Zugleich von einer Zartheit und verletzlichen Schönheit wie auch abgehärtet, kantig, klar. Das ist wohl einmal mehr die Schule von Billie Holiday – und der Grund, weshalb Rosenthal in ihr richtigerweise die erste Hard Boppering sieht.

Es folgt „Jossa Bossa“ aus der Feder von Don Moore. Einmal mehr erklingt ein Samba-Beat, aber der Groove fühlt sich halbwegs Bossa-mässig an, ohne jedoch die überlegene Entspanntheit der Vorlage hinzukriegen. Aber das stört nicht weiter. Willis spielt ein Intro, das in den Groove führt, McLean steigt erst nach über einer Minute ein und spielt ruhige Linien, die sich eher der Klavierbegleitung anschmiegen als dass man von einem Solo reden könnte. Doch dann, DeJohnette wirft ein paar ungewöhnliche Klänge ein, bricht McLean mit einem Cry aus und setzt zum eigentlichen Solo an. Sein Spiel bleibt verhalten und doch schafft er eine gewisse Intensität.

Den Abschluss macht „The Bull Frog“ von Willis, ein funky Boogaloo (und entfernter Verwandter von „Cantaloupe Island“), bei dem McLean tief in die Blueskiste greift und Licks auspackt, die auf all diesen Sessions sonst meist vermieden wurden (am wenigsten auf CORNBREAD). Doch er spielt auch mit reinen Bebop-Linien, streut „falsche“ Töne ein, lässt den Ton entgleiten – und demonstriert einmal mehr seine Meisterschaft als Blueser. Willis greift in dieselbe Trickkiste, tremoliert, streut eifrig flatted fiths und Gospel-Klisches ein. Doch es klingt, als hätten alle vier eine gute Zeit, auch Moore, der den Boden viel trockener legt als es die anderen Bassisten auf den Sessions davor getan hätten.

Fazit: das Album fängt grossartig an, verspricht an „Right Now!“ und die anderen Grosstaten anzuknüpfen, bleibt in der zweiten Hälfte dann aber eine Spur dahinter zurück. Nicht viel, nur eine Spur.

Den Abschluss dieser etwas mehr als zwei Jahre macht ein weiteres Album von Lee Morgan, CHARISMA, eingespielt am 29. September 1966. Hank Mobley und Billy Higgins sind erneut dabei, die neuen Sidemen sind Cedar Walton und Paul Chambers an Klavier und Bass. Das Album erschien erst 1969, als Paul Chambers bereits verstorben war.

Den Auftakt macht Morgans „Hey Chico“, eine Boogaloo-Nummer, die an „The Sidewinder erinnert, aber ihren eigenen Charme entwickelt, obwohl die Absicht der Herren Lion und Morgan klar ist. McLean spielt das erste Solo, nachdem Morgan und Mobley die Melodie zweistimmig präsentiert haben. Das setzt gewissermassen am Closer der letzten Session an und McLean hat auch hier keinerlei Problem, ein tolles bluesgetränktes Solo zu spielen, egal wie klischiert und süffig die funky Akkorde von Walton hinter ihm geraten. Aus den Turnarounds holt er das letzte heraus, und Morgan, der nächste Solist, steht ihm natürlich in nichts nach, greift in seine Trickkiste mit den „half-valve“-Tönen, den kleinen Licks, den Verschattungen, aus denen er dann tänzelnd wie ein Boxer die nächste Kurve nimmt, um gleich wieder einen Haken zu schlagen und in dem Moment zu treffen, in dem es keiner erwartet. Mobley folgt, ihm gelingt ein toller Einstieg ins Solo. Higgins treibt ihn an, er macht seine Sache fast so toll wie Henderson auf der unerreichten Vorlage. Walton folgt, und ihm liegt das Idiom natürlich viel besser als Barry Harris, der auf der Vorlage der ringer war. Dann wird das Stück mit dem Thema ausgeblendet.

„Somethin‘ Cute“ stammt ebenfalls von Morgan. Das Stück nutzt die drei Bläser effektiv und wechselt vom Swing zu einer Passage mit aufgehobenen Changes – das Mittel, das McLean auf RIGHT NOW! so ausgiebig genutzt hat. Hier ist der Groove smoother, die Rhythmusgruppe geschliffener, aber der Aufbau von Spannung gelingt dennoch allen Solisten ganz gut. Der Reihe nach sind das Morgan, McLean, Mobley, Walton.

Waltons „Rainy Night“ ist eine Art Walking-Ballade, in der die Rhythmusgruppe öfter doppeltes Tempo spielt, Morgan aber in seinem Solo fast konstant im langsameren Tempo bleibt und ein berührendes Solo spielt, nachdem er schon – sekundiert von den Saxophonen – das Thema präsentiert hatte. Walton folgt mit einem ebenfalls tollen Solo, besticht mit der Klarheit seiner Linien und Ideen. Dann beendet Morgan das Stück mit dem Thema.

Die zweite Seite des Albums öffnet mit Duke Pearsons „Sweet Honey Bee“ (ob er das Arrangement von „My Old Flame“ geschrieben hat?), ein toller, sehr ausgespaarter Groove mit rollendem Piano und Staccato-Einwürfen der Bläser, Higgins deuten den Backbeat zunächst mehr an als dass er ihn ausspielen würde, Pearson lässt das Stück ein in der Bridge eine charmante Wendung nehmen. Perfektes Ausgangsmaterial für Morgan, dem einmal mehr ein bestechender Einstieg ins erste Solo gelingt – eine Linie, die man notieren und ihrerseits als Stück gebrauchen könnte. Mobley folgt, sehr flüssig zunächst, später – auf Higgins‘ Beat einsteigend? – kantiger, danach McLean mit seinem tollen Sound und bluesigen Motiven, die sich an die Changes anschmiegen. Walton fängt mit einer quecksilbrigen Linie über Bläsermotiven an, wird dann auch rhythmischer, streut funky Passagen und mehr Pausen ein. Nach der Wiederholung des Themas wird gerifft und ausgeblendet.

Es folgen zwei weitere Originals von Lee Morgan, zunächst „The Murphy Man“, das Chambers mit einem insistierenden Bass-Lick öffnet, dann steigen die Bläser ein, zu dritt präsentieren sie das Thema, auch die Rhythmusgruppe ist durchgängig arrangiert, die Bridge wird über einen Latin-Beat gespielt. Hank Mobley spielt das erste Solo, wieder sehr flüssig. Morgan übernimmt, zunächst mit kurzen Phrasen, viel Pausen, kommt dann aber immer mehr in Fahrt. Und da setzt McLean an, spielt ein kurzes aber präzises Solo. Walton folgt, auch er sehr flüssig. Und schliesslich kriegt hier auch Paul Chambers sein verdientes Solo.

Den Abschluss mach der Blues „The Double Up“, der mit ein paar improvisierten Chorussen von Walton öffnet, bevor Morgan/Mobley unisono das Thema präsentieren. Morgan, Mobley und McLean folgen mit guten Blues-Soli. Dann komt Walton erneut zum Zug.

In der Kürze und Knappheit der Soli und der Stücke (sie dauern zwischen 5:36 und 7:31 Minuten) liegt zwar ein nicht geringer Reiz – die Solisten sind schliesslich alle, wie der Titel sagt, Musiker mit einigem Charisma. Aber die Kürze bringt auch eine gewisse Gleichtönigkeit mit sich, die nur von „Rainy Night“, der bezaubernden Ballade, durchbrochen wird. Dennoch ein mehr als ordentliches Album, das mit den Sternstunden unter McLeans Namen allerdings nicht mithalten kann. Als Fazit bleibt die Zusammenarbeit mit Morgan hinter jener mit Tolliver und Willis zurück, auch wenn die beiden – Morgan und McLean – wirklich hervorragend harmonieren. Man hätte gerne Mitschnitte von Club-Sets, am besten mit Willis, Ridley und Jarvis (oder auch DeJohnette). Aber da es sich bei diesen Formationen um Band handelte, die fürs Studio erst zusammengestellt wurden (die Combo mit Morgan und Mabern) oder fürs Studio verändert und ergänzt wurden, gab es diese Club-Sets wohl gar nicht erst. Nichtsdestotrotz bleibt als Fazit eine grosse Begeisterung vor allem für die fünf Sessions von McLean (CONSEQUENCES bleibt nicht weit dahinter, aber Morgans INTENSITY ist besser). Als Werkkörper ist das eine ganz grossartige Sache, die für mein Empfinden alles andere, was McLean gemacht hat – auch die geliebten Aufnahmen aus dem Jahr 1963 – in den Schatten stellen.

Das war’s jetzt mit Kapitel VI. Das folgende Kapitel – die Live-Aufnahmen der Left Bank Jazz Society, noch von 1966 aber mit der Working Band (Lamont Johnson, Scotty Holt, Billy Higgins – gehörte letzterer wirklich zur Working Band?), das erneute Zusammentreffen mit Grachan Moncur III (HIPNOSIS, ‚BOUT SOUL), das tolle Zusammentreffen mit einem Trompeter namens Ornette Coleman (NEW AND OLD GOSPEL) und die letzte Studio-Sternstunde für Blue Note (DEMON’S DANCE) übernimmt hoffentlich wieder vorgarten, worauf ich dann gerne einen ergänzenden Post über die weiteren eher konventionellen Sideman-Session schreiben will (Jack Wilson EASTERLY WINDS, Hank Mobley HIGH VOLTAGE und Lee Morgan THE SIXTH SENSE). Danach gehört das Parkett wieder ganz vorgarten, derweil ich mich mal bemühen sollte, meine McLean-Sammlung der späteren Jahre zu ergänzen (und die eine oder andere Presige-Lücke nachaltig zu stopfen).

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