Re: john lenwood "jackie" mclean

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vorgarten

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V. das sextet

ONE STEP BEYOND (1963)
DESTINATION… OUT! (1963)

außerdem:
grachan moncur III: EVOLUTION (1963)

in der musikalischen emanzipationsgeschichte des jazz in den frühen 60ern gibt es eine wirklich hippe band: das moncur-mclean-hutcherson-williams-quartett mit wechselnden bassisten und einem lee morgan als gaststar. das war ein kurzer einblick in das, was jenseits von hardbop, r&b, fire music und akademischer avantgarde damals möglich war. ein von stereotypen angeödeter saxophonist auf der suche, ein verschrobener, endlich zum komponieren kommender posaunist, zwei nach allen seiten hin offene jungstars enwickeln für drei alben ein wirkliches bandkonzept, mit eigenem kompositions-und improvisationsstil, einem eigenen sound und prinzipieller offenheit.

mclean hatte seit 1958 keine feste band mehr. nach seiner CONNECTION-zeit wunderte er sich über die stereotypen playing-konzepte, die auch von den jungen spielern nicht verändert wurden und begab sich auf die suche. er hatte mit mingus gespielt, coltrane und coleman studiert, seinen eigenen weg zum modalen jazz gefunden, aber keine working band, mit der er kollektiv etwas neues entwickeln konnte. bei einem gig in boston lernte er tony williams kennen, der zeitgleich kontakt zu mcleans freund grachan moncur aufnahm. der wiederum war gerade bei ray charles ausgestiegen, weil er durch das ewige fliegen gehörprobleme bekommen hatte und endlich selbst komponieren wollte. monk war einer seiner inspirationsquellen (einen fluss durch wechselnde rhythmen hinzubekommen, bewunderte er an jenem besonders), pulp music aus science-fiction-filmen und fernsehserien eine zweite. das wird ja gerne vernachlässigt, für mich aber mehr und mehr zu einem sehr interessanten thema: das, was ich behelfsmäßig „newark gothic“ nenne – den skurrilen themenfundus von moncur, alan und wayne shorter, die in der nat-phibbs-band in newark zusammen spielten, damals zu komponieren anfingen und eine affinität zu billigen und schrägen populärmythen teilten, in begräbnisanzügen auftraten und von ihrer umwelt und ihren mitmusikern nicht mehr verstanden wurden. kompositionen wie „frankenstein“ und „ghost town“ (moncur), „witch hunt“ und „dance cadaverous“ (wayne shorter) oder „mephistopheles“ (alan shorter) lassen sich so erklären, auch die düstere skurrilität und das cinematographische ihrer musik. vieles, was menschen an den dreien bis heute merkwürdig finden (im nicht-genau-wissen, ob das alles humorvoll gemeint oder wirklich schräg war), hatten sie erklärtermaßen gemein – mit einigen satelliten, die gerne für einzelne momente in diese welt abtauchten, wie marion brown, archie shepp oder eben jackie mclean.
moncur komponierte 1962 also, nachdem er nach new york gekommen war, und spielte mit dem jungen bobby hutcherson, den er mclean empfahl. und dieser hatte also endlich eine band, mit der unablässig geprobt wurde und die er schließlich live präsentierte. dass sie zwischen die standards das material von moncur miteinfließen ließen und das publikum ziemlich begeistert darauf reagierte, bestärkte sie in ihrem weg. so kam das neue, aber erprobte bandkonzept in rudy van gelderns aufnahmestudio und ONE STEP BEYOND entstand – mit dem vergleichsweise offenen bassisten eddie kahn (der erst ein paar jahre zuvor vom tenorsaxophon auf sein aktuelles instrument gewechselt war). das material war abwechslungsreich gewählt: zwei uptempo-stücke von mclean (allerdings mehr bei den proben entstanden), zwei düstere tongedichte von moncur. der mclean-sound ist dunkel eingefärbt, keine trompetenspitzen umspielen den harten mittellagen-ton mehr. tony williams ist hier eigentlich schon auf dem gipfel seines könnens, kammermusikalisch emanzipiert, jedes detail seines kits ist eigenständig, sein beat ist zu allen stops, gegenläufen, verstotterungen in der lage. hutchersons können ist hier noch nach oben offen, fast ist er der traditionellste spieler in dieser band – seine sounds sind allerdings spektakulär und originell. vor allem in den schnellen nummern lässt er die akkorde nur sparsam hineinschweben (ohne dass man den anschlag hört), während er bei den moncur-stücken perkussiv mit williams verschmilzt. toll ist, was er alles offen, d.h. in der luft hängen lässt. ganz im stil von moncur, der ohnehin mehr pausen lässt als spielt. und auch mclean passt sich hierin an: kürzelthemen, pausen, freie interaktion mit der rhythm section. dazu ein umwerfendes melodisches gehör, das den komplexen akkorden von hutcherson wie den bewusst falschen tönen von moncur noch etwas wahnwitziges hinzufügen kann. FRANKENSTEIN und GHOST TOWN sind natürlich die höhepunkte – kino-ton-bilder über rästelhafte sujets, die immer nur andeuten, dass sie sich in bewegung setzen, und dann doch auf der stelle treten, aus der stille kommen und wieder dahin verschwinden, schreie zulassen und peking-oper-crashs von williams, trotzdem nicht zu schweben aufhören. das ist das unerhörte vermächtnis dieser band, neben den experimentellen stop-and-go-uptempo-nummern, die mühelos auch plötzlich ganz dicht, treibend, in überschallgeschwindigkeit geraten können. außerdem sind alle musiker sound-fetischisten: jeder ton, jeder klang ist moduliert.

das ändert sich etwas bei DESTINATION OUT!, da bassist und schlagzeuger wechseln. larry ridley und roy haynes sind zwar toll und verstehen sehr genau, was die anderen drei da machen, aber sie sind doch viel mehr hintergrund als williams+kahn oder williams+cranshaw. und hutcherson ist plötzlich viel mehr solist (wahnsinnssolo in „love and hate“). das konzept bleibt, vier stücke in unterschiedlichem tempo, diesmal ist nur noch eins von mclean dabei. moncur spielt auch hier wieder die strukturiertesten soli, die man im freien jazz kennt (schon die aus „frankenstein“ und „ghost town“ kann man in ihrer perfektionen kaum begreifen). „riff raff“ ist allerdings fast schon ein flirt mit den blue-note-gassenhauern, die alfred lion so gerne initiiert hat.

moncurs erste leader-platte EVOLUTION sollte doch noch einen mann für die höhen haben: ein trompeter wurde gesucht. mclean und moncur wollten woody shaw. der wollte auch. dann schlug lion lee morgan vor, ein freund der beiden, allerdings seit seinem weggang von den jazz messengers ziemlich weg vom fenster. mclean und moncur freuten sich, dass morgan zur verfügung stand, willigten ein und woody shaw beendete die freundschaft mit moncur (wie dieser später bedauerte). das album ist ein höhepunkt in vielerlei hinsicht. alle kompositionen sind von moncur und großartig: der brodel-swing-wechsel-bombenangriff „air raid“ wir von „evolution“ abgelöst, das eigentlich nur einen akkord hat, der aber subtilst umspielt wird. dann kommt mit „the coaster“ ein abstraktes latin-stück, durchaus fröhlich – mit der verqueren figur von „monk in wonderland“ ist man am ende allerdings in der skurrilen ratlosigkeit angekommen, die moncur aus dem stehgreif evozieren kann. lee morgan ist meiner ansicht nach keine gute wahl. er lässt sich sehr auf das konzept ein, allerdings auf sportliche art – um zu zeigen, dass seine übergroße virtuosität auch sowas hier meistern kann. er manipuliert seinen ton nach belieben, hat ideen, die (wenn sie toll sind) auch gerne viermal genauso toll wiederholt werden. was fehlt ist tiefe – wie auch in seinen nächsten projekten, bei denen sich mühelos „sidewinder“ mit „search fort he new land“ abwechseln können, ohne dass sich in seiner spielweise etwas ändert. am ende ist morgan für mich immer weder fisch noch fleisch gewesen, weder entertainer noch suchender, immer jemand, der alle aufgaben perfekt meistert und doch nichts wirklich besonderes findet. ganz anders mclean, der seine straßen-weisheit, seinen ärger über die szene und über die mangelnde unterstützung für „amerikas kunst nummer eins“ (liner notes zu DESTINATION OUT!), seine ganz persönliche suche und seine präkere existenz als cabaret-card-loser jazzmusiker mit drogen-problemen ganz mühelos in ein neues projekt hineinfeuern kann.

die hipness dieser band ist schwer herzuleiten. sie ist urban und entschieden weltlich. nichts hat sie von coltranes oder aylers spiritualität. programm ist weniger die bibel als die pastiche-philosophie khalil gibrans, post-beatnik- und prä-hippie-lektüre, von mclean in den liner notes zu ONE STEP BEYOND zweimal zitiert und mit KHALIL THE PROPHET auf DESTINATION OUT in eine komposition gegossen. das akademische fehlt dieser band auch – sie hat eher was ungeduldiges und verschrobenes, aus dieser kombination mocur einserseits, williams und hutcherson andererseits. letztere haben versucht, da weiterzumachen, mit oft kopfigeren ergebnissen – hutcherson mit joe chambers, williams mit seinen ersten leaderalben. shorter (wayne) und hancock (erster sparringpartner für mocurs kompositionen) gehören noch erweitert dazu – mit denen wird moncur sein nächstes album aufnehmen, bevor ihn blue note fallen lässt, weil er ihnen die rechte an seinen kompositionen nicht überlässt. er wird sich shepp anschließen, nach europa gehen und beinahe in vergessenheit geraten. williams geht zu miles. mclean geht ins gefängnis (für ein halbes jahr wegen alter drogengeschichten) und muss sich danach wieder neu erfinden. diese band wird aber eine sondergröße bleiben, nach coltrane, ayler, taylor, coleman ein weltlicher moment der zweiten avantgarde, vor der bürgerrechts-fire-music von shepp und roach und vor dem theatralischen furor vom art ensemble und dem arkestra von sun ra.

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