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LET FREEDOM RING (1962)
HIPNOSIS / THE JACKIE MCLEAN QUINTET (1962)
TIPPIN‘ THE SCALES (1962)
VERTIGO (1963)
außerdem:
kenny dorham: INTA SOMETHIN‘ (1961) und MATADOR (1962).
die zeit, in der mcleans großer befreiungsschlag LET FREEDOM RING ensteht, ist eine klassische übergangsphase. zum einen beschäftigen ihn die grenzen, die seinen kompositorischen ambitionen der frühen blue-note-phase gesetzt wurden (das überwinden von „overused chord structures“, wie er sie nannte, gelang ihm bisher nur in den themen, nicht in den improvisationsgerüsten, was sein „personal dilemma“ dieser zeit gewesen sei), zum anderen versucht er skalen und modale systeme auch in seinem solo-spiel über standards zu entwickeln – außerdem ergibt sich endlich für ihn die möglichkeit, mit kenny dorham zusammenzuspielen, dem er zwar schon als 15-jähriger von bud powell vorgestellt worden war, für den er einen großen respekt hatte und den er – ähnlich wie miles – als innovator begriff (das reißt er in seinern FREEDOM-liner-notes an, ohne es weiter auszuführen), mit dem er aber erst jetzt, 1961, zum ersten mal aufnehmen kann.
es handelt sich um eine live-aufnahme aus dem „jazz workshop“ in san francisco, vom 13. november 1961, veröffentlicht bei pacific jazz. dorham war im juli mit dem „jazz committee for latin american affairs“ in brasilien aufgetreten und hatte ein sehr ‚bluenotisches‘ latin-bop-amalgam namens „us“ komponiert, das später in „una mas“ unbenannt wurde und als startschuss für die vielleicht tollste dorham-band mit joe henderson fungierte. auch dorham war also auf dem weg in etwas neues, weg von standards und „I got rhythm“, hin zu einem eigenen kompositorischen stil. mit „us“ fängt dieses livealbum an und gibt auch gleich atmosphäre und rollenverteilung vor: ein ziemlich zurückhaltender trompeter lässt einen aufgeheizten saxophonisten mit seinen solistischen konzepten experimentieren, wobei die rhythm section aus walter bishop, leroy vinnegar und art taylor ihm derartig entspannt so viel raum gibt, wie die gute stimmung im publikum es erlaubt. dorhams zurückhaltung ist eigenartig; auf zwei stücken (LET’S FACE THE MUSIC AND DANCE und LOVER MAN) spielt er gar nicht mit, auf NO TWO PEOPLE beschränkt er sich auf thema und ein rudimentäres solo. seine solo-version von IT COULD HAPPEN TO YOU fällt allerdings ganz großartig aus, flüssig, entspannt und ökonomisch. mclean nutzt seine spots allerdings ganz anders. schon die soloeinstiege sind verrückt – fast wie ankerpunkte dessen, was harmonisch möglich ist, schickt er einzeltöne voraus, zwischen denen er dann motivische netze entwickelt. virtuos be- und entschleunigt er dabei, schickt riskanten melodischen einfällen schnell konventionelle skalenframente hinterher, r&b-licks, bop-kürzel. doch ist das im einzelnen sehr gewagt und funktioniert auch nur, weil bishop klugerweise oft aussetzt und nicht auf den klassischen harmonischen strukturen beharrt. am ende des einfachen r&b-stücks SAN FRANCISCO BEAT dreht mclean gleichsam durch, setzt ein risikomotiv an das nächste und nur ganz entfernt passt das alles noch zur ohnehin lockeren struktur des stücks. der applaus ist mäßig; bishops superentspanntes akkordfedern danach fängt diesen moment perfekt ab.
„I want to give my personal opinion to the new concept in jazz today“, lautet der grund dafür, dass Jackie mclean die liner notes für LET FREEDOM RING selbst schreibt. auch wenn darin viel von vergangenen erfahrungen und karrieremomenten die rede ist, soll das doch ein statement sein zum neuen, zum anderen, zum eigenen. ornette coleman wird gegen die kritik verteidigt, das spiel über akkordschemen als „conventional“ abgeurteilt und die „emotionalität“ des spiels als oberstes prinzip, auch über technische voraussetzungen hinaus, ausgerufen (im schulterschluss mit der späten billie holiday und ihrer kaputten, aber doch so wirkungsvoll eingesetzten stimme). der slogan lautet: „the search is on.“
die musikalische umsetzung erfolgt im quartett, obwohl mclean das material auch später mit dorham ausprobiert. dieses quartett ist alles andere als schreiend modernistisch; bud-powell-schüler walter davis ist wieder dabei, herbie lewis am bass und – das ist allerdings programm – billy higgins fungiert als drummer und bindeglied zur coleman-band.
so toll dieses album in seinem durchgehend federnden swing, seinem non-stop-mclean-powerplay, seiner prinzipiellen offenheit und dem stretching-out-gestus auch ausfällt, höre ich es eher als das typische beispiel einer übergangsphase denn als bilderstürmerischen neubeginn. mclean spielt zwar auf hohem niveau durch und hat die kompositionen von allem akkord-wechsel-stress befreit, das eigentliche material, was da bewegt wird, ist aber ziemlich konventionell, sowohl solistisch (kein ausloten und durchbrechen der kompositionen wie im san-franscisco-auftritt), als auch in den kompositionen. MELODY FOR MELONAE klingt in seiner simplen modalen struktur eher nach dem village-vanguard-coltrane als nach ornette, I’LL KEEP LOVING YOU, eine selten gespielte bud-powell-ballade, ist zwar ganz reizend, aber eine seltsame wahl und wird vom fortissimoplay mcleans etwas überreizt, und RENE und OMEGA beruhen eigentlich auf blues-akkord-schemen (wie bob blumenthal betont). darüber hinaus ist mir walter davis‘ rolle unklar: er setzt sparsame, harmonisch offene blockakkorde, wirkt aber solistisch ziemlich überfordert. ich würde sein spiel sogar unpräzise nennen, vieles geht tastend daneben und im ganzen hat das keinen eigenen spirit. ganz anders klingt ein paar jahre später das quartett aus willis, cranshaw und jarvis auf RIGHT NOW, das mclean zu einem regelrechten stream of ideas führt – hier sind es nur kurze dialoge mit higgins und davis, die sich ergeben, während ansonsten die rhythm section „nur“ beweglich bleibt und mitswingt. eine ausnahme ist für mich da das letzte stück, OMEGA, das einen anderen weg einschlägt. strukturell ist es komplizierter, die drei teile des themas bewegen sich ständig, wobei immer ein anderes instrument dominiert und higgins gibt der performance bei jeden wechsel einen neuen schub, während mcleans motive zu neuen melodischen umlaufbahnen abheben. wie er in allen vier stücken (auch in der ballade) für kurze, aber bestimmte momente, ins überblasen übergeht, fügt der kategorie „schrill“ im jazz eine neue dimension hinzu, bleibt aber ein sonderfall bei mclean, der energie und emotion normalerweise anders herbeiführt – spricht aber für die etwas forcierte gesamtkonzeption dieses albums.
knapp 4 wochen später nimmt mclean wieder mit dorham auf – MATADOR für united artists, zusammen mit bobby timmons, teddy smith und j.c. moses. wieder bekommt man einen einblick sowohl in die musikalische suche von kenny dorham (das titelstück EL MATADOR ist ein harmonisch offener latin-5/4 , sehr sophisticated und eine vorschau auf das, was er mit henderson weiterführen wird) als auch in mcleans state of the art, denn er hat sein MELODY FOR MELONAE gleich mitgebracht (es heißt hier MELANIE). dazu gibt es drei standards und ein trompeten-piano-duo auf brasilianischer grundlage (PRELUDE von heitor villa-lobos). vor allem die erste seite mit matador und melanie hat es wirklich in sich. dorham spielt durchgängig fantastisch, vor allem im fast schon sonny-rollins’schen hin-und-herschieben von themenmotiven, durch das er eine unglaubliche spannung aufbaut. mclean nimmt sich diesmal fast zurück, selbst im beschleunigten MELANIE geht es erst nach einem fast schon melancholisch verlangsamten eintieg allmählich zur sache. viel raum bekommt er von bobby timmons nicht, der auf dem harmonisch gerüst beharrt und die wenigen gesetzten akkorde einfach ohne pause in der begleitung durchspielt – um dann in ein halsbrecherisches solo auszuflippen, in dem er seine funky licks so lange wiederholt und rhythmisch verschiebt, bis das stück fast explodiert. ganz großartig agieren auf der platte auch der flexible und sehr auf timmons ausgerichtete moses und der fantastische teddy smith, der immer wieder sehr effektvoll zwischen den lagen wechselt und in den langen stücken so für abwechslung sorgt.
die kombination von dorham und mclean macht großen spaß, da beide absolut eigenständig sind und sich immer etwas entgegenzusetzen haben, ohne sich den glanz streitig zu machen. spielt dorham souverän, leistet sich mclean momente des suchens und explodiert der saxophonist, stellt sich der trompeter mit melancholischen kurzeinlagen an den rand des geschehens. beides sind geschichtenerzähler, die immer einen dramatischen zugang zu ihrem spiel haben, sei es in den soli selbst oder im entwurf des ganzen. nie gibt es leerlauf oder wiederholungen.
das gilt natürlich auch für die nächste gemeinsame session, diesmal unter mcleans namen bei blue note, dort aber zunächst genauso wenig veröffentlicht wie mcleans nächste versuche (erst ONE STEP BEYOND verließ das haus wieder unmittelbar nach der aufnahme). die wunderbare zusammenstellung dieses quintetts (mclean – dorham – clark – warren – higgins) ist dabei auch schon die ganze miete. bei mcleans und bei dorhams beiträgen muss man kompositorisch von rückschritten sprechen: enge skalenkorsetts, einfache blues-schemata, blue-note-hardbop-standard. die beiträge der anderen sind von sich aus schon nicht explorativ, sonny clarks BLUES IN A JIFF klingt eben nach sonny clark und die beiden tracks von higgins und warren sind nett, aber nicht mehr. interessant ist eben dieses konzept der gleichberechtigung, zu dem sich keiner hervortut und alle etwas beitragen. das wirkt in gänze etwas eintönig (alles im midtempo und vor allem higgins spielt ziemlich gleichbleibend undramatisch), steckt aber voller versteckter schönheiten – einzelne fragmente von clark, dorhams sich-in-den-blues-wühlen bei seinem BLUES FOR JACKIE und der generelle eindruck, dass jeder hier profilarbeit betreibt und deutlich macht, dass niemand sonst so spielen kann. und trotz einzelner diamanten, die der pianist auslegt, bleibt mclean hierbei der freieste geist, der über die struktur eine ganz eigene folie auszulegen mag, die – so spürt man – alles in einem anderen licht erscheinen lassen könnte, wenn sie nur wollte. will sie hier aber nicht.
jackie mcleans nächster versuch TIPPIN‘ THE SCALES bei blue note ist ein weiterer schritt zurück – und blieb bis zur japan-veröffentlichung 1979 im dortigen giftschank deponiert. eigentlich sollte bei der besetzung sonny clarke – butch warren – art taylor nicht viel daneben gehen und es lässt sich auch mit dem titelstück ganz gut an, einem skurrilen abwärtsthema, in dem jeder ton die erwartung um einen halbton enttäuscht. das läuft auch solistisch rund, bleibt aber etwas hardboppig kleben. dann kommen aber zwei brave bluesnummern, in denen die rhythm section behäbig in sich ruht, während mclean glanzlos und überlaut die dominanz sucht, ohne bewegung in die midtemposeligkeit zu bringen. auch in den nächsten nummern fällt mcleans ton eher unangenehm auf, da er nicht mehr in die klassizität der hardbopper passt. wessen idee es war, ein solch schon von der anlage her langweiliges album zu machen, nachdem es schon eine art programmatisches manifest und anschluss an eine „new conception of jazz“ geben hat, ist mir schleierhaft. aber natürlich kann man auch nicht behaupten, TIPPIN‘ THE SCALES sei ein völlig misslungenes ding. auch wenn das setting den letzten prestige-sessions ähnelt, hätte mclean dort doch nie so spielen können. sehr deutlich wird jedenfalls, dass sonny clark in seiner zitatjonglage und seiner verschleppten brillanz für avantgardistische ambitionen eher eine bremse darstellte.
hört man direkt danach die 5 stücke der VERTIGO-session, ebenfalls zunächst unveröffentlicht, weht direkt ein frischer wind durch mcleans musikalische ideen. zum ersten mal in seinem leben ist tony williams in einem aufnahmestudio und seine originalität ist mit händen zu greifen und scheint hier schon wie verkabelt mit hancocks pianistischen geistesblitzen. lassen mclean oder byrd ihnen raums für fills, nutzen sie sie sofort. in MARNEY klingt es so, als ob williams auf dem ride becken beschleunigt, während er mit schlägen auf die halbgeöffnete hi-hat simultan verlangsamt. auch sonst macht er in ziemlich vielen momenten ziemlich viel anders. hancock spielt relativ dicht, was für mclean nicht allzu gut funktioniert, aber er hält harmonisch alles sehr schön in der schwebe. im schwindelstück VERTIGO baut mclean zum erstenmal ein ätzendscharfes kürzelthema, in dem auch byrd in schrille hochlagen muss, als stop-and-go-startschuss – das geht mit williams und hancock natürlich sehr gut. ganz anders als clark kann der pianist an akkorden hängen bleiben, spannung aufbauen, die mclean abheben lassen. wäre byrd tolliver, könnte er dem etwas entgegensetzen – aber so geht die luft relativ schnell wieder raus. in hancocks solo wird das ganze natürlich bis zum zerreißen rhythmisch angespannt; was da passiert, gehört zum brillantesten, was in dieser mclean-phase aufgenommen wurde. als höhepunkt: das erste aufgenommene tony-williams-solo (bei dem warren und hancock aber ein bisschen mitspielen, ist ja auch eher kammermusik als jazz). insgesamt ein ausblick auf kommende attraktionen. wie um das zu entschärfen, hat mclean mit CHEERS noch einen ganz leichten swinger komponiert, der ebenfalls großen spaß macht und in dem byrd sehr zuhause ist. das konventionellste stück ist der klassische blues YAMS, ausgerechnet von hancock. immerhin gibt es darin ein solo von butch warren.
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