Re: john lenwood "jackie" mclean

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gypsy-tail-wind
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Jimmy Smith nahm den grössten Teil seiner zahlreichen Blue Note Alben im Trio mit einem Gitarristen und einem Drummer auf. Einige Male trommelte Blue Note für ihn allerdings grössere Bands zusammen, so auch am 22. März 1960. Neben seinen regulären Sidemen Quentin Warren (g) und Donald Bailey (d) spielten Blue Mitchell (t), Jackie McLean (as) und Ike Quebec (ts) mit.

Open House – Das Titelstück des ersten Albums ist eins der drei Stücke, die in der vollen Besetzung entstanden. Die Phrasierung des Blues-Themas entspricht jener von Ellingtons „In a Mellow Tone“ (die Linie ist aber eine gänzlich andere), die Bläser präsentieren das Thema im Wechsel, Bailey trommelt Akzente, Smith pumpt. Blue Mitchell soliert als erster, sein Solo ist linear, lyrisch wie gewohnt – er wird von Smith und Bailey enorm zurückhaltend begleitet, was seinen wunderbaren Ton sehr schön zur Geltung kommen lässt. Wunderbar, wie er sein Solo entwirft, wie er sich Zeit lässt, mit Pausen arbeitet, hie und da den Ton etwas rauher gestaltet, hie und da einen Triller, einen half valve Effekt oder einen kaum angedeuteten growls einstreut, gegen Ende spielt er auch eine tolle Passage in double time, und man nimmt plötzlich wahr, dass Bailey unmerklich seine Begleitung verdichtet hat.
McLean folgt als zweiter, bewegter, mit sicherem, festem Ton. Bailey spielt immer bewegter, erlaubt sich rhythmische Spielchen mit seinen Fills. McLean und Smith harmonieren perfekt bei ihrer ersten Begegnung im Studio, auch McLeans Solo ist voller Pausen, sein Ton schwer und gross, seine Phrasen zwar noch immer purster Bebop, aber es wirkt ein wenig wie Bebop auf Tranquilizer, Bebop durch einen Schleier, Bebop mit Fell auf der Zunge… also McLean auf dem Weg zu seiner eigenen Musik, eben dieses irgendwie schwere, träge Element in sich trägt, das ihn als scheinbar in sich ruhend wirken lässt. Sehr toll!
Der dritte Solist ist Ike Quebec, sein rohes Tenor ist nach Mitchell und McLeans schönen Soli ein ziemlicher Anachronismus, bringt aber auch eine völlig neue Stimmung ins Geschehen. Und Smith dreht jetzt auch etwas auf, während Baileys Fills anfangs etwas konventioneller ausfallen, aber nach einigen Durchgängen wieder sehr intensiv und toll sind. Quebec mag im Ton und in der Phrasierung altmodisch, nach Swing-Ära, klingen, aber seine Linien verraten, dass Bop ihm keineswegs fremd war.
Was bei allen drei Bläsersoli auffällt: alle drei sind in der Lage aus einfachsten Phrasen ein tolles Solo zu konstruieren, ein Solo, bei dem fast der Eindruck entsteht, man könne seine Konstruktion verfolgen noch bevor man es einen Moment danach auch schon hört. Und alle sind sie auch Meister der Stimmung, können mit zwei, drei Tönen alles umkehren, die Richtung ändern, und mit drei, vier weiteren Tönen wieder zurück.
Smiths Solo folgt, er beginnt langsam, baut eine tolle Stimmung auf, Quentin Warren schaltet sich zum ersten Mal ein, das Trio kommt rasch in Fahrt und man merkt sofort, wie gut eingespielt die drei sind.
Die drei Bläser spielen dann über einem langsamen Fade-Out wieder abwechselnd die Phrase des Themas… und nach sechzehn Minuten ist diese einfache aber tolle Nummer vorbei. Sie mag etwas lang geraten sein, aber wenn man den Solisten zuhört wird man reichlich belohnt!

Old Folks – Quebec suchte sich geschmackssicher eine Ballade von Willard Robison als Feature aus. Sein Ton ist etwas sanfter, wunderschön, man hat stets das Gefühl, er könnte noch viel mehr herausholen aus seinem Tenor, aber gerade dadurch entsteht eine Spannung, die Smith dann einigermassen weiterführt, aber geschickt einige lautere Passagen in sein kurzes Solo einstreut. Dann bringt Quebec das Stück zu Ende und Smith wabert, summt und wummert fein vor sich hin, während Bailey das langsame Tempo fein swingt.

Sista Rebecca ist das zweite Smith-Original und die zweite Nummer mit der vollen Besetzung – ein Blues in Moll. Quebec klingt am Tenor eher so wie auf der Ballade, mit wenig Vibrato und viel Pausen bläst er ein nahezu perfektes Solo, jeder Ton sitzt, jede Linie führt genau dorthin, wo sie muss. Smith und Bailey begleiten ihn aufmerksam. Das ist alte Schule, und wohl eine Spielweise, die damals von den jungen eher misstrauisch oder gar herablassend beäugt wurde, aber auch eine Spielweise, die heutzutage nur noch von wenigen (sehr) alten Musikern beherrscht wird, etwa von Hal Singer.
Blue Mitchells Solo ist wieder von dieser unglaublichen Strenge, er glänzt mit ökonomischen Linien, die perfekt sitzen und lange Pausen für Baileys Fills lassen. McLean übernimmt dann, sein Ton biegsam, geschmeidig, aber auch wieder von dieser Schwere und Sattheit. Streckenweise scheint der die Changes kurz zu verlassen (die Phrase von ca. 6:01-6:05). Baileys Fills und überhaupt sein Spiel ist bei aller Luftigkeit und Leichtigkeit enorm toll hier!
Smiths Solo beginnt ruhig, aber der Plan ist klar: Intensität aufbauen und einen orgiastischen Höhepunkt ansteuern. Dabei wird er wieder tatkräftig von Quentin Warren und Bailey unterstützt. Auch er spielt mit einfachen kleinen Motiven, Repetition und Variation, während Bailey die Rhythmen immer dichter webt. Wieder wird das Stück am Ende ausgeblendet, mit elf Minuten ist es kürzer und kompakter als „Open House“.

Embraceable You – Mit McLeans Balladen-Feature endet das erste Album. Auch er wird nur von Smith und Bailey begleitet (Leonard Feather spricht bei beiden Balladen-Features von „quartet tracks“, aber ich höre eine Gitarre, was nicht aussergewöhnlich ist – Smith hat hie und da, wenn er einen oder mehrere Bläser dabei hatte, Stücke ohne Gitarre aufgenommen). McLeans Ton ist stark und fest, er lässt sich viel Zeit, sehr viel Zeit, Bailey deutet zwar double time an, McLean lässt sich aber nicht zu mehr als ein paar kurzen raschen Läufen verleiten, bleibt nahe am Thema. Nach zwei Alto-Chorussen spielt Smith einen halben, bevor McLean das Thema zu Ende spielt und das Stück mit einer schönen Kadenz enden lässt.

Wie schon „Open House“ (BST 84269) erschien auch „Plain Talk“ (BST 84296) erst einige Jahre nach der Aufnahme. Wieder besteht das Programm aus zwei langen Jams und zwei Balladen-Features (für Mitchell und ein zweites Mal für Quebec, den Veteranen).

Big Fat Mama – Das erste lange Stück stammt von Lucky Millinder und wird im Quintett ohne McLean gespielt. Der Groove der Nummer ist ansteckend, Bailey swingt fein, Quebec spielt das erste Solo, mit grosser Klarheit konzipiert und umgesetzt. Mitchell folgt (Bailey greift erstmals zu rimshots) und steht dem in nichts nach, sein Ton ist knackig und frisch. Beide Soli sind warm und lyrisch aber auch swingend, sind frei gespielt aber auch von einer grossen Disziplin.
Smith folgt mit einem langen, sehr tollen Solo – seinem besten der Session wohl. Er bringt dann am Ende auch das Thema nochmal, das mit seiner jumpenden Linie auch nur mit Orgel wie eine Big Band Nummer klingt (war es ja wohl auch).

My One and Only Love – Mitchell beginnt sein Feature mit einem frei improvisierten Intro im Rubato, nur sanft von Smith begleitet. Sein Ton ist offen und warm, weich und gross – ein richtiger Blech-Ton eben, wie er sein sollte, singend und fett. Das Thema bläst Mitchell mit etwas mehr Vibrato als gewöhnlich. Smith spielt dann ein kurzes Solo, sehr zurückhaltend und nahe am Thema bleibt er in der von Mitchell gesetzten Stimmung. Dieser übernimmt bei der Bridge wieder und bringt das Stück mit einer grossartigen Paraphrase des Themas zu Ende.

Plain Talk – Die zweite lange Nummer und das Titelstück des zweiten Albums ist das dritte Smith-Original und das einzige Stück, auf dem McLean auf dem gleichnamigen Album zu hören ist. Wieder soliert Mitchell als erster, wieder überzeugt er mit einem schlafwandlerisch sicher phrasierten, ökonoischen Solo. Wie Nat Hentoff in seinen Liner Notes betont, sind Smith-Warren-Bailey in der Tat eine hervorragende Begleit-Truppe für Bläser, und das wird auch hier wieder deutlich, wie sie Mitchell durch sein Solo folgen, ihn anspornen, ohne je aufdringlich zu werden.
McLean folgt, sein Solo ebenfalls mit grosser Autorität gespielt, mit viel Raum für Bailey und grossem Gespür für Dramatik. Quebec ist der dritte Solist, sein Solo ebenfalls von grosser Einfachkeit, mit Versatzstücken gespickt, die wir alle schon hunderte Male gehört haben, aber er macht daraus ein Solo, das wie eine Erzählung, eine Geschichte klingt… der alte Seher, der uns Anteil nehmen lässt an seinem Wissen um die Geheimnisse des Jazz. Smiths Solo ist kürzer, am Ende gibt’s einen Shout-Chorus und für einmal ein Fade-Out.

Time After Time – Ja, das Stück gab’s schon lange vor Cindy Lauper… Quebec kam als Veteran in den Genuss eines zweiten Balladen-Features und hat sich dazu die schöne Ballade von Jule Styne und Sammy Cahn. Smith spielt ein kurzes Intro, dann setzt Quebec ein, spielt das Thema ganz, ganz langsam, mit Vibrato und wieder mit dieser selbstauferlegten Zurückhaltung. Mal lässt er einen Ton schon süsslich singen, wie er das auf seinem Bossa-Album später tun würde, dann stösst er ein paar Töne sehr hart an… mit Bailey geht er kurz ins double time, die balladeske Stimmung bleibt aber unangetastet. Smith agiert zurückhaltend, lässt Quebec viel Raum.

Im Smith’schen Werk bewegen sich diese beiden Alben wohl mit soliden ***1/2 (oder doch ****?) im Mittelfeld. Es gibt hier nicht die absolut zwingenden oder aufregenden Momente, zu denen Smith in der Lage war, die Band funktioniert bestens, bloss wäre etwas mehr Variantenreichtung (vielleicht auch ein paar kürzere Stücke mehr, auch mal eine schnellere aber kurze Nummer, und vor allem auch mal ein Gitarrensolo) hilfreich gewesen.
Mir gefällt die Session sehr gut, aber eben: als Einstieg würde ich anderes Empfehlen, wohl locker zehn Alben über diesen beiden ansiedeln.

Von Jackie McLean kriegt man sehr schöne Soli zu hören, er ist einer von vier Solisten, ragt weder besonders heraus noch fällt er in irgendeiner Weise ab. Sein Spiel ist boppig aber eben von dieser bei ihm später immer deutlicher zutage tretendenden Schwere.

Übrigens eine kleine Notiz noch zu McLeans Time, Rhythmus, Phrasierung – ich weiss nicht genau, wie ich das formulieren soll, aber der reife McLean, wie er sich in dieser Zeit langsam herauskristallisiert, erinnert mich immer wieder an Dexter Gordon. Beide haben etwas statisches, in-sich-ruhendes, etwas majestätisches auch, sie sind scheinbar völllig unabhängig von ihrem Umfeld, können machen was sie wollen, simple lange Töne blasen, in rasante Linien ausbrechen, Bop-Klisches aufreihen, rhythmische Spielchen treiben… und sie sind doch immer genau da, wo sie eben sind, für sich allein.

Ich kann das nicht besser formulieren, kann nicht genauer ausführen, was ich meine – ich höre es einfach und es ist für mich evident, keine Ahnung, ob sich sowas mitteilen lässt oder ob diese Sichtweise (und Hörweise) sich anderen erschliesst.

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