Re: Berlinale 2011 – 10. bis 20. Februar

Startseite Foren Kulturgut Für Cineasten: die Filme-Diskussion Berlinale 2011 – 10. bis 20. Februar Re: Berlinale 2011 – 10. bis 20. Februar

#7910295  | PERMALINK

witek-dlugosz

Registriert seit: 19.11.2010

Beiträge: 5,114

29. März 1987. Der etwa zwölfjährige Vacek begleitet die Mutter zu diversen Behördengängen, die für ihren Antrag auf Ausreise aus der Tschechoslowakei benötigt, damit Mutter und Sohn dem Vater nach Großbritannien folgen können.

Vacek verbringt den Großteil des Tages damit, auf seine Mutter zu warten. Er sitzt in den Empfangsbereichen sozialistischer Zweckbauten und beobachtet still, aber mit wachem Blick das Wenige, das um ihn herum passiert: das Familienbild, das ihm ein Pfötner zeigt, einen Mann, der ein gefärbtes Ei pellt und isst, die Menschen die vorbeigehen.

Die Kamera zeigt diese Szenen des Wartens nahezu in Echtzeit und in ungewöhnlichen Ausschnitten. Von den Vorbeieilenden sieht man nur die Beine oder die Hände, die dem Pförtner einen Brief oder Schlüssel hinlegen. Dazwischen werden immer wieder Vaceks große Augen gezeigt.

Die Mutter ist angespannt – dementsprechend wirsch geht sie mit dem Sohn um. Auf den Busfahrten schreibt sie ihrem Mann. Den Brief legt sie zusammen mit Kleidern und neuen Schuhen für Vacek in einen Koffer, den sie einem britischen Ehepaar für den Vater mitgibt. Am Abend (und damit am Ende des Films) schreibt sie den 43. Brief – der Titel des Films (auf Deutsch „Achtzig Briefe“) verrät, dass noch viele Briefe folgen werden, bis die Familie in Großbritannien wiedervereint ist.

Das Bild Václav Kadrnkas als Kind mit seiner Mutter, das zum Abspann gezeigt wird, verrät, dass „Osmdesát dopisů“ eine autobiographische Erzählung ist. Kadrnka hat dankenswerterweise darauf verzichtet, die Trennungsgeschichte seiner Eltern auszuerzählen. Er deutet sie nur an, indem er einen einzigen Tag beispielhaft beschreibt. Der Film ist weniger als geschichtliche Aufarbeitung zu verstehen, sondern als eine Abbildung der Erinnerungen des Regisseurs. Kadrnkas großes Verdienst ist aber, dass ihm bei der Konzentration auf ganz persönliche Erinnerungen scheinbar beiläufig eine ruhig und selbstbewusst in Szene gesetzte, sehr präzise Studie des Wartens voller Detailbeobachtungen aus dem tristen Braun des tschechoslowakischen Alltags der Vorwendezeit geglückt ist.

* * * *

--