Re: Andrew Hill

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gypsy-tail-wind
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Ich weiss, das ist eigentlich kein Hill-Album… aber irgendwie ist’s eben doch eins. Zum einen hat Hill mit „Catta“, „Les noirs marchant“ (da fehlt ein „s“ am Ende, nicht? EDIT: nein, das Stück scheint korrekt „Les noir marchent“ zu heissen, siehe auch: http://www.jazzdiscography.com/Artists/Hill/hill-disc.htm), „Ghetto Lights“ sowie dem CD-Bonustrack „Jasper“ ausser zwei Stücken von Joe Chambers alle Musik beigesteuert und prägt dadurch und auch mit seinem „comping“ die Musik enorm, zum anderen ist die ganze Hill-Gang versammelt: Richard Davis und Joe Chambers, seine damaligen Rhythmuspartner, waren dabei, ebenso Freddie Hubbard und Sam Rivers, der im Jahr drauf auch ein Album mit Hill machen sollte. Und Hutcherson/Hill gehen ja auch schon länger zurück… überdies ist das Album für mich in der tollen Reihe von Hutchersons Blue Note Leader-Alben auch eine Art Fremdkörper – wohl gerade, weil es so stark von Hills Kompositionen und Konzeptionen geprägt ist.

„Catta“ ist ein nervöses Stück, das von Hills dichtem Klavierspiel lebt. Chambers eröffnet mit einem feinen Latin-Beat, derweil jemand anderes noch kurz zu Schlaghölzern oder sowas greift. Das Stück wird über einen Mambo-Rhythmus im 8/8-Takt gespielt, Rivers soliert als erster, für seine Verhältnisse enorm konzentriert und ohne jemals richtig auszuscheren. Mit einer kurzen Phrase aus dem Thema werden die neuen Solisten angezeigt. Auf Rivers folgt Hubbard, wunderbar verspielt – überhaupt fällt mir hier auf, wie er enorm lyrisch spielt, hier auch noch ein paar Lee Morgan-artige Tricks mit „half valves“ einbaut, es über die ganze Session nicht für nötig hält, seine Muckis zu demonstrieren (was mich ja bei ihm hin und wieder stört, diese grossspurige Art, die er oft an den Tag gelegt hat). Hutcherson folgt mit einem tollen Solo, der Herr mit den Schlaghölzern ist manchal ein wenig arhythmisch, wie mir scheint, aber das stört wenig, denn Chambers groovt wie die Hölle, Davis legt ein sich dauernd bewegendes aber dennoch stabiles Fundament und Hill füllt mit seinem dichten Spiel jegliche Lücken auf.
„Idle Wild“ ist ein lyrischer Walzer von Chambers. Hubbard spielt das Thema mit Dämpfer, Rivers ist and der Flöte zu hören. Dann soliert Hubbard als erster auf der offenen Trompete, wie auf der vorangegangenen Hill-Session gelingt es ihm, schnelle Läufe in ein äusserst getragenes, schönes Solo einzubauen. Die Stimmung ist äusserst nachdenklich, Davis prägt die Begleitung hier am massgeblichsten mit seinen agilen Linien, die oft in die hohen Lagen vordringen, derweil Chambers leicht mit den Besen swingt. Nach einer kurzen Vibes-Passage spielt Davis dann ein wunderschönes Solo, in dem er sehr frei mit dem Beat umgeht, stellenweise eine Hill’sche Rubato-Stimmung aufbeschwört. Zum Ende folgen wieder gestopfte Trompete und Flöte mit dem Thema – wunderschön!
Die erste Seite des Albums endet dann mit Hills „Les noirs marchant“, das wohl entweder „Les noirs marchants“ oder „Les noirs marchent“ heissen sollte (A.B. Spellman nennt es „Les noirs marchent“ in seinen originalen Liner Notes). Hubbard spielt das Thema über einen schrägen Marsch-Rhythmus, Rivers umspielt an der Flöte, Hill bricht mit Clustern ein, Davis‘ agiler Bass übernimmt wieder eine Hauptrolle, Hutchersons Marimba umspielt den Rhytmus, während Chambers leicht dahintrommelt… dann bricht das Metrum kurz ein, baut sich wieder auf, alles sehr fragmentiert und offen, ein Wechsel der Stimmen mit kollektiven Passagen, die sich langsam aufbauen, bis Chambers den Beat wieder fallen lässt… die Band verschmilzt jedenfalls zu einem ganzen, die klassische Rollentrennung zwischen Rhythmusgruppe und Solisten wird streckenweise völlig aufgehoben. Davis greift zum Bogen, beginnt eine Art Solo, aber bald schalten sich Hubbard und Rivers wieder ein und auch Hutchersons Marimba wird aufdringlich… und schon sind wir wieder mitten in einer kollektiven Passage. Schliesslich greift Chambers den Marsch-Rhythmus wieder auf, das Thema folgt noch einmal, das Stück endet dann aber mit einer kurzen freien Passage, in der die Musik sich langsam zersetzt.
Die zweite Hälfte beginnt mit Chambers‘ Titelstück. Die Gruppe agiert auch hier als ein ganzes, es gibt keine Trennung zwischen Soli und Begleitung, der Rhythmus wird über weite Strecken nur angedeutet oder sehr frei umspielt. Rivers ist hier an der Bassklarinette zu hören, zusammen mit Hills streckenweise düsteren Akkorden und der hohen Trompete Hubbards ergibt das eine sehr prägnante Stimmung. Hutcherson wechselt zwischen Vibes und Marimba, es gibt auch hier wieder Raum für Davis – und es herrscht auch keine Scheu davor, zwischendurch groovende Motive einzustreuen. Mit fast zehn Minuten ist das die längste Komposition des Albums und auch sein Herzstück – und vielleicht DIE typische Komposition für die Avantgarde, wie sie im Hause Blue Note in jenen Jahren geprägt wurde.
Das letzte Stück des Albums, der langsame Blues „Ghetto Lights“, stammt wieder von Hill und wird in einem groovenden 12/8 Takt gespielt. Es lebt schon im Thema stark von Hubbards verspielter gestopfter Trompete, die unisono mit Hutchersons Vibes die Melodie präsentiert und dabei von Rivers‘ Bassklarinette umgarnt wird. Hubbard übernimmt auch gleich das erste Solo, sehr verspielt, vokal, lyrisch – ein ganz wunderbares Solo! Davis ist mit seinem springenden Bass sehr präsent, ändert dann seine Begleitung für Rivers Sopransolo. Der alte Kämpe (der ja sein Geburtsjahr frisiert hat – mit Jahrgang 1923 ist er ein gehöriges Stück älter als die meisten seiner Kollegen auf dieser Session) spielt das zickige Horn mit einem satten vollen Ton, seine Linien schlängeln sich um den mittlerweile nur noch angedeuteten 12/8-Beat. Dann folgt Hutcherson mit einem warmen Solo, streckenweise sehr bluesig, und Davis passt seine Begleitung wieder an, greift aktiver ein, wechselt schliesslich zu einem kleinen rhythmisierten Motiv, während Hill und Chambers den 12/8-Groove wieder stärker forcieren. Schliesslich folgt noch einmal das Thema. Kein grosses Werk, aber ein enorm charmanter „closer“ für ein grossartiges Album!
Als Bonustrack hören wir noch Hills rasanten aber konventionellen Blues „Jasper“. Hutcherson spielt das erste Solo, in glänzender Laune, einmal mehr mit toller Begleitung von Davis und Chambers. Es folgen Hubbard, Rivers am Tenor und Hill mit einem vergleichsweise direkten, swingenden Solo (so ab 7:20 klingt jedoch das Piano ganz grässlich verzerrt und schwankend, als sei die Aufnahme von einem alten Tonband überspielt, das mal nass geworden ist oder so… das zieht sich durch bis zum Thema – vielleicht auch da, aber da hör ich’s nicht mehr).

Ich bin Euch für den Anstoss, mal wieder richtig „Dialogue“ zu hören enorm dankbar! Irgendwie hatte ich davor noch nie so ganz den Zugang zu diesem Album gefunden, aber jetzt, im Rahmen der Musik von Hill, passt es ganz wunderbar… habe es jedenfalls heute dreimal angehört und das mit grösstem Genuss!

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