Startseite › Foren › Über Bands, Solokünstler und Genres › Eine Frage des Stils › Blue Note – das Jazzforum › Die Mutter aller Listen – gypsy goes jazz › Re: Die Mutter aller Listen – gypsy goes jazz
ferryMir fällt es schwer, den Gesang auszublenden. Ich kann die Musik zwar geniessen, aber wenn der Sänger immer „dazwischenfunkt“ ist der Genuss doch getrübt.
In dem kleinen Booklet wird auch beschrieben, dass Fletcher Henderson der Pionier der Big- Band- Ära war. Also überaus wichtig in der Geschichte des Jazz. Das heisst also, seine wichtigsten Aufnahmen hat er in den 20er Jahren gemacht ?
Ja, ich denke so ab Mitte der 20er Jahre geht’s los. Hab mich noch nie richtig in seine Musik vertieft, das Booklet der „Study in Frustration“ gibt sicher weitere Anhaltspunkte (aber wie gesagt: ich würde da Vinyl empfehlen, hab selber die CD Box schon sehr lange).
Henderson hat den Sound der Big Bands definiert, die Sections, wie sie zusammen und gegeneinander arrangiert werden etc. Don Redman war dabei auch eine zentrale Figur (er hatte Mitte der 40er selber eine Band, den Hinweis darauf hat redbeans schon mal gemacht). Schlüsselsolisten waren Louis Armstrong (der war aber nicht sehr lange bzw. nur in den frühen Jahren dabei), und Musiker wie Joe Smith, Rex Stewart, Tommy Ladnier (tp), Charlie Green und Benny Morton (tb), Buster Bailey und Don Redman (reeds), Kaiser Marshall (d) sowie der wichtigste von allen, Coleman Hawkins (ts). Auf den frühen Aufnahmen klingt sein Tenorsax noch wie ein novelty Instrument, über die Jahre machte er daraus aber ein zentrales Instrument der Band und kurz danach auch des Jazz an sich.
Ich hab jetzt eben die Indispensable Fletcher Henderson aufgelegt (z.B. hier oder hier recht billig zu haben). Was wir hier hören, schon auf den ersten Stücken von 1927, ist Musik, die viel gezähmter ist als der frühe New Orleans Jazz (der auch ein paar Jahre später noch in völlig authentischer Form zu hören ist), aber auch niemals so sweet klingt wie die grossen Orchester im Stil von Paul Whiteman. Hendersons Musik bringt von allem etwas zusammen, und das da entsteht ist eigentlich bereits Swing.
Die Besetzung der Band hat sich über die Jahre vergrössert, aber kaum je die spätere Standardgrösse (4-5 tp, 4 tb, 5 reeds, 3-4 rhythm) erreicht – bei Henderson waren’s auch 1936 nur dreizehn Musiker (3 tp, 2 tb, 4 reeds, 4 rhythm).
Auf dem RCA-Set sind alle Sessions zu hören, die Henderson für Victor gemacht hat (die meisten Alternate Takes fehlen, wie immer bei den Jazz Tribune Doppel-Alben sind die CD-Ausgaben inhaltlich mit den LPs völlig identisch). Aus dem Jahr 1927 sind zwei Sessions zu hören (CD1#1-5 – mit Ladnier, Joe Smith, Morton), dann geht’s 1931 mit zwei Sessions (CD1#6-13 – mit Rex Stewart, Morton, Procope, Edgar Sampson) weiter, von 1932 (CD1#14-17 – mit Stewart, Sandy Williams, J.C. Higginbotham, Sampson, Procope) stammt noch eine Session, dann folgt eine Session von 1934 (CD1#18, CD2#1-3 – mit Joe Thomas, Henry „Red“ Allen, Keg Johnson, Buster Bailey, Procope, Hilton Jefferson) und dann wieder eine Pause bis 1936 (drei Sessions, CD1#18, CD2 – mit Roy Eldridge, Ed Cuffee, Bailey, Omer Simeon, Chu Berry, Israel Crosby, Sid Catlett).
Hawkins ist auf allen Sessions bis 1934 zu hören, Don Redman nur auf den ersten aus den 20ern. Etwas schade ist, dass Henderson recht spät den Wechsel von der Tuba zum Kontrabass vollzogen hat, erst recht, da er mit John Kirby schon 1931 einen exzellenten Bassisten in der Bandd hatte. Auf den 1936er Sessions ist übrigens auf einzelnen Stücken auch sein Bruder Horace am Piano zu hören, an Fletchers Stelle. Horace leitete zeitenweise auch eine eigene Big Band, auf der letzten Chronological Classics CD (Horace Henderson 1940 / Fletcher Henderson 1941) ist fast nur seine Musik zu hören und sie ist zu dem Zeitpunkt einiges toller als Fletchers Band (der hat allerdings als Arrangeur mitgearbeitet), voll mit jungen Musikern.
Louis Armstrong hat nur bis im Herbst 1925 mit Henderson gespielt, also in den frühen Jahren (die Sachen von 1921-23 sind übrigens kaum hörbar… das ist noch kein richtiger Jazz sondern irgendein Zwischending aus Tanzmusik, Variété und Novelty). Die Zeit ist wohl v.a. wegen Armstrongs stets mitreissendem Spiel toll, Hawkins klingt da oft noch sehr seltsam, bei ihm geht’s so ab Mitte der 20er dann allmählich los, auf einem Stück wie „Sugar Foot Stomp“ (1931-04-29) ist dann fast alles da, was ihn zu einem so grossartigen Musiker machte.
Mit den je zwei Timeless und Hep CDs sowie dem RCA-Set hat wohl fast jeder genug Fletcher Henderson (zwischen Timeless und Hep gibt’s keine Überschneidungen, nehme ich aufgrund der Jahresangaben in den Titeln an, beim RCA-Set müsste man vorher mal genauer vergleichen). Die Columbia-Box wäre natürlich eine Alternative, enthält am Ende aber weniger Musik und eben in CD-Form deutlich schlechtere Klangqualität.
Es gibt übrigens auch eine kleine Episode von Lester Young in Fletcher Hendersons Band… Young was the next thing nach Hawkins, aber Hendersons Frau konnte das nicht erkennen und hat ihm offenbar fortwährend Hawkins-Aufnahmen vorgespielt und versucht, ihm klarzumachen, wie ein Tenorsax gefälligst zu klingen habe… naturgemäss war Young schnell wieder draussen.
--
"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba