Re: Die Mutter aller Listen – gypsy goes jazz

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gypsy-tail-wind
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Ach herrje… ich stecke gerne Leute mit meinem Enthusiasmus an, das ist noch kein Lob :-)
Sowas hör ich natürlich immer gern!

Die McCann/Harris-Scheibe ist bestimmt nicht für jedermann. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass McCann gerne als Leichtgewicht abgeschrieben wird ;dazu ist aber lustig anzumerken, dass er mehr oder weniger dauernd – wie das heute ist, weiss ich nicht – mit Gewichtsproblemen kämpfte und für seinen Auftritt in Montreux 1969 so schlank war wie schon lange nicht mehr… und irgendeine Story von wegen erster Joint im Leben gibt’s auch noch.

Eddie Harris trat mit seiner eigenen Band in Montreux auf, das Konzert auf „Swiss Movement“ war eine kurzfristig angesetzte Jam-Session (eine Spezialität von Claude Nobs war und ist es, an seinem Festival Musiker zusammenzubringen). Die Umstände waren denkbar ungünstig, Benny Bailey fühlte sich sehr unwohl mit der Band (McCanns Trio, Harris am Sax und Bailey an der Trompete), zudem gab’s nur ein Mikro für die Bläser und nur McCann und seine beiden regulären Begleiter, Bassist Leroy Vinnegar (jazz‘ greatest walker) und Drummer Donald Dean, waren mit den Stücken vertraut, die fast alle aus McCanns Feder stammten. Harris spielte selber ja hervorragend Piano, stellte sich also hinter McCann, um die Akkorde der Stücke fortlaufend mitzu“lesen“ und sie Bailey mitzuteilen, der vorn an der Bühne stand. Harris nahm das Mikro mit nach hinten, da Baileys Ton auch ohne Mikrophon gut zu hören war… aber irgend ein Bühnenarbeiter schnappte sich das Mikro immer wieder und stellte es nach vorn.

Dass unter diesen Umständen eine derart tolle Scheibe entstehen konnte, grenzt an ein kleines Wunder, aber die Musik groovt so toll, der Sound ist dreckig und authentisch, Bailey spielt tolle Soli; besonders toll ist eines – ist es das auf „Cold Duck Time“? – bei dem das Publikum mittendrin in frenetischen Applaus ausbricht… Bailey erinnerte sich aus Anlass der CD-Ausgabe, er habe mit geschlossenen Augen gespielt und gedacht, die Leute fänden ihn wirklich grossartig… dann habe er die Augen geöffnet und gesehen, dass der Applaus in Wahrheit Ella Fitzgerald galt, die grad den Raum betreten hatte… sie hätte sich sofort bei ihm mit einer Geste entschuldigt… aber sein Solo ist eben dennoch grossartig! Auch Eddie Harris steuert tolle Soli bei, vor allem aber seinen Klassiker „Cold Duck Time“ (von dem’s soweit ich weiss keine andere Aufnahme gibt, diese hier ist auch nicht zu toppen!), eine simple Funk-Nummer mit einem tollen Basslick von Vinnegar. McCann steht im Zentrum, es ist seine Band, seine Musik… und der Opener „Cold Duck Time“ gehört auch ganz ihm, das einzige Stück, in dem er auch als Sänger zu hören ist.

Auf der CD (glaub nicht auf allen Editionen, daher die „Montreux 30th Anniversary Edition“ kaufen, mit dem roten Rand oben, siehe Bild) gibt’s als Bonustrack ein Original von Leroy Vinnegar, „Kaftan“ zu hören.

Bailey gibt übrigens auch Auskunft, dass er nach dem Konzert am liebsten alles vergessen hätte… erst Jahre später, als die Platte Gold oder was weiss ich holte und er immer wieder Geld kriegte für seine Mitwirkung, habe er sie sich dann doch mal angehört – und natürlich für viel toller befunden, als ihm seine Erinnerung weismachen wollte.

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