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Johannes_ReiterSorry, hab Dein Shakespeare-Ranking gerade gesehen. Am gröbsten liegen wir sicher bei „Measure For Measure“ auseinander. Lese da, von der gewohnten Sprachmächtigkeit abgesehen, nichts, was in die Nähe von * * * * * käme.
Jeder hat, sosehr er Falstaff, Hamlet, Lear und Kleopatra verehren mag, ganz persönliche Lieblinge unter Shakespeares Dramen (oder sollte sie doch haben); die meinen sind Maß für Maß und Macbeth, Stücke, die mich mehr faszinieren als irgendein anderes literarisches Werk, jenes („Maß für Maß“) als Inbegriff des erhaben Ranzigen, dieses („Macbeth“) wegen seiner radikal ökonomischen Struktur. Das Wien des Lucio und des Bernardine und die Hölle Macbeths sind unübertreffliche Darstellungen menschlicher Gebrechlichkeit, der sexuellen Malaise in Maß für Maß, des Horrors der Fantasie vor sich selbst in Macbeth. Dass Maß für Maß zwar nach wie vor geschätzt, aber nicht wirklich populär ist, hat mit dem dort herrschenden Ton der Zeideutigkeit zu tun: wir wissen nie genau, wie wir das Stück aufzufassen haben, und wenn wir schließlich zu der verrückten letzten Szene gelangen, sind wir vollends auf fassungsloses Staunen zurückgeworfen.
Ich habe immer das Gefühl, als spuke bereits etwas von Jagos Geist in Maß für Maß. Die Vorläufer des europäischen Nihilismus im 19. Jahrhundert, den Nietzsche und Dostojewski predigten, sind Hamlet und Jago, Edmund und Macbeth. Aber Maß für Maß geht über die vier Tragödien noch hinaus und ist das wahrhafte Meisterwerk des Nihilismus.
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